Dieser Mann soll Schröder retten

VON HEIKE HAARHOFF

Da war das satte Hamburg. Und dann Mecklenburg-Vorpommern: strukturschwach, siechend, östlich. Die Bundesländer konkurrierten um den Superairbus A 380. Nebenbei lief ein Wahlkampf, Kohl gegen Schröder, und wer Kanzler würde 1998, das sollte im Osten entschieden werden. Ausgerechnet da unterstützte Gerhard Schröder, der Kanzlerkandidat, den Airbus-Bewerber Hamburg. Es muss sein Instinkt gewesen sein, der ihm sagte, dass er aufs richtige Pferd setzte: auf Thomas Mirow, SPD, damals Wirtschaftssenator in der Hansestadt und treibende Kraft in dem Wettbewerb um Industriearbeitsplätze. Mirow, für den Standortpolitik keine Frage der sozialen Gerechtigkeit war. Mirow, der für die Airbus-Landebahn Europas größtes Süßwasserwatt opferte. Mirow, der einer unpopulären Strategie folgte, leise, unbeirrt, zäh. Thomas Mirow kommentierte die Geste seines Parteikollegen zurückhaltend. Und er hatte sowieso schon berechnet, wie die Chancen standen. Selbstverständlich ging der Zuschlag an Hamburg.

Jetzt setzt Schröder darauf, dass Thomas Mirow den Standort Deutschland auf Vordermann bringt. Wirtschaftspolitische Ratschläge soll er geben, innovative Ideen entwickeln, irgendetwas, das der Bundesregierung ihr Trauma der 5,2 Millionen Menschen ohne Arbeit überwinden hilft und ihr trotz fataler Prognosen ein wenig Überlebenshoffnung gibt. Es gibt attraktivere Jobs, als in diesen Tagen zum wirtschaftspolitischen Berater des Kanzlers nach Berlin berufen zu werden. Zumal die Stelle befristet ist. In eineinhalb Jahren wird ein neuer Bundestag gewählt. Dann läuft auch Thomas Mirows Engagement aus. Alles wirkt wie der verzweifelte Versuch des Kanzlers, das Schicksal in letzter Minute doch noch zu wenden, nachdem der Wirtschaftsminister gescheitert ist und die Besitzstandswahrer in der eigenen Partei sich gegen umfassende Reformen durchgesetzt haben. Ist es seriös zu glauben, in nur 18 Monaten könnten wirtschaftspolitische Leitlinien sich nicht bloß formulieren lassen, sondern vor allem: Erfolge bringen?

Er taugt nicht zur Identifikation

„Ich habe mich nicht aufgedrängt“, sagt Thomas Mirow. Treffender kann man ihn kaum beschreiben, diesen 52 Jahre alten, hageren Herrn im Anzug und mit Seitenscheitel. Als Treffpunkt hat er nicht sein Zuhause oder sein Büro gewählt, sondern ein Hotel-Café nahe des Hamburger Dammtor-Bahnhofs, unauffällig, diskret, funktional. Immer waren es die anderen, die sein Vertrauen suchten. 1975 schlug Willy Brandt ihm vor, sein Assistent und später Büroleiter zu werden. 1983 bat Klaus von Dohnanyi „diesen sachorientierten, ungewöhnlich intelligenten Mann“ nach Hamburg und machte den 30-jährigen promovierten Politologen, Sozialwissenschaftler und Romanisten zum Sprecher seiner Landesregierung. Thomas Mirow ist gewissenhaft. Selbst seine Frau, Barbara Mirow, heute Chefredakteurin des Hörfunksenders NDR Klassik, musste als Schülerin erst mal zwei Jahre Nachhilfe in Französisch bei ihm nehmen und Abitur machen, bevor er sich für sie interessierte.

Und nun also hat der Kanzler angefragt. Thomas Mirow im Hamburger Hotel-Café rührt entspannt in einer Tasse Earl Grey. Seine neue Aufgabe, sagt er dann, sei eine „Notwendigkeit“. Euphorie klingt anders. Selbst bei einem „gemäßigten Menschen“, als den Thomas Mirow sich beschreibt. Aber was bleibt ihm: Was immer er jetzt öffentlich sagt, Steuern rauf oder runter, Jobgipfel desaströs oder hymnisch, Agenda 2010 das Ende oder der Anfang aller Reformen, er weiß, dass er dafür im Zweifelsfall zerrissen wird. Er ist lange genug im Geschäft, um die Regeln der politischen Diplomatie verinnerlicht zu haben. Also sagt er: „Wir dürfen die Idee des wachsenden Europas nicht aufgeben.“ So ein Satz stimmt immer. Er ist typisch für Thomas Mirows Politikstil.

Mirow verrät nichts über seine konkreten Absichten im Kanzleramt, man kann ihn fragen, wie man will, er verweigert die Antwort. Sich nicht in die Karten gucken lassen, strategisch im Hintergrund agieren, das Heft nie aus der Hand geben und schließlich mit gespielter oder tatsächlicher Leidenschaftslosigkeit – so genau lässt sich das nicht sagen – Lösungen präsentieren, die mehrheitsfähig sind: Auf diese Weise ist ihm als Wirtschaftssenator immer wieder der große Wurf geglückt, Arena im Hamburger Volksparkstadion, Flughafenausbau in Fuhlsbüttel, Hafenerweiterung in Altenwerder, Hafen-City, Airbus A 380. Auf ähnliche Weise befriedete er vor zehn Jahren die Hafenstraße. Die CDU schrie „Abriss“, „Chaoten“ hetzte die Bild, und Thomas Mirow, damals Senator für Stadtentwicklung, suchte das Gespräch qua Amt, ertrug Kaffeetassen, an denen noch alter Zucker klebte, duzte nie zurück und handelte am Ende genossenschaftliches Wohnen mit Elbblick für fünf Mark nettokalt aus. Nicht, weil er mit den Hausbesetzern sympathisiert hätte, solche Kategorien des Denkens sind ihm fremd. Es musste eine Lösung her, er war zuständig.

Wenn Thomas Mirow eine Überzeugung hat, dann die vom Leben und Leben lassen. So ein Modell aber funktioniere nur, sagt er, wenn geklärt sei, welches „Maß an Ungleichheit in den Städten“ eine Gesellschaft verkrafte. Es ist die Frage nach der Verteilung von Chancen. Eine philosophische Frage. Prestigeträchtige Großprojekte waren in Hamburg seine wirtschaftspolitisch-pragmatische Antwort darauf. Wenn Wachstum oder Arbeitsplätze zu erwarten waren, dann wurden Menschen umgesiedelt, Biotope zubetoniert, gefährdete Tierarten von der Roten Liste als kuriose Phantom-Kreaturen abgetan und die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt: die Wirtschaftsbehörde in Hamburg hat das Recht, ihre eigenen Bauanträge sich selbst zu genehmigen und dann auszuführen. Am Ende applaudierte die Opposition häufiger und der grüne Koalitionspartner seltener. Es ist nicht die schlechteste Voraussetzung, um dieser Tage unter den gegebenen Machtverhältnissen in Bund und Ländern Projekte anzuschieben.

Thomas Mirow war zuletzt privatwirtschaftlicher Unternehmensberater und deutscher Beauftragter für die Durchsetzung der so genannten Lissabon-Strategie, mit der die EU-Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern wollen. Davor hatte er als Spitzenkandidat der SPD in Hamburg 2004 eine Bürgerschaftswahl vergeigt. Es war das erste Mal, dass Thomas Mirow, der Intellektuelle, „der Streber“, wie ihn manche Genossen an der Elbe abfällig nennen, nicht nominiert, sondern gewählt werden sollte. Es hat nicht geklappt. Mit dem Gegenkandidaten Ole von Beust konnten sich die Hamburger identifizieren. Mirow hingegen wirkt deplatziert, wenn er im Wahlkampf auf dem Fischmarkt einen Bismarckhering isst oder lächelnd Rosen verteilt. Es gehört einiges dazu, in Hamburg zu elitär zu wirken.

Noch heute erzählen sie in der Hamburger Wirtschaftsbehörde die Geschichte vom „Fahrstuhl-Express“: Sein Senatorenbüro war in der obersten Etage. Kam er ins Haus, dann steckte sein Fahrer einen Schlüssel in den Aufzug, was verhinderte, dass der Fahrstuhl auf dem Weg nach oben auf den verschiedenen Ebenen hielt. Mirow wollte das so. Smalltalk mit zufällig zusteigenden Mitarbeitern führen zu müssen – diesem Risiko wollte er sich unter allen Umständen entziehen. Thomas Mirow macht es Menschen nicht leicht, ihn zu mögen. „Er ist funktionstüchtig“, sagt ein langjähriger Mitarbeiter aus Hamburg.

Er wird respektiert. Das reicht ihm

In der Politik reicht das, um respektiert zu werden. Mehr hat Thomas Mirow nie gewollt. Ein Lehrstuhl an einer Universität, verrät er, hätte ihm wohl auch gefallen als Lebensziel.

Aber dann kam Willy Brandt. Willy Brandt, der Charismat, der Politiker der Herzen inmitten des Kalten Krieges. Dieser Willy Brandt entdeckte ihn, Thomas Mirow, gerade mal 23 Jahre alt und ohne auch nur die kleinste SPD-Ortsgruppenerfahrung! Thomas Mirow hebt nicht einmal die Stimme. Er sagt: „Ich war mit Willy Brandts zweitem Sohn befreundet, wir gingen zusammen zur Schule.“ So banal war das also. Der gerade erst als Bundeskanzler abgewählte Parteivorsitzende Brandt fragt den Freund seines Sohns Lars, ob er einen Job braucht, und der Freund denkt sich: coole Sache. Oder, um es mit Thomas Mirows Worten auszudrücken: „Man lernte durch ihn andere Leute kennen, Olof Palme, Jimmy Carter, François Mitterrand. Aus der Perspektive eines Menschen, der damals Anfang, Mitte zwanzig war, ist das was.“

Vor allem war es eine Welt, die Thomas Mirow aus der Kindheit vertraut war. 1953 wurde er in Paris als drittes Kind eines Diplomaten und einer Hausfrau geboren; er wuchs zweisprachig auf und war elf, als die Eltern sich trennten und die Mutter beschloss, Grundschullehrerin zu werden. Er sagt kühl: „Der Einfluss meines Vaters war sehr begrenzt.“

International denkt er auch heute. Er sagt: „Die Kernaufgabe wird sein, das europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu erneuern, sodass es im Wettbewerb mit den USA und China standhält.“ China und die USA. Reizworte für die Verfechter von Tariflohn, Kündigungsschutz, Festanstellung, vorzeitigem Ruhestand, Feiertagszuschlag, gesetzlicher Krankenversicherung.

Thomas Mirow wird sich im Kanzleramt kaum reinreden lassen. Bernd Pfaffenbach, sein Vorgänger dort, der manchen Zickzackkurs des Kanzlers mitging, wünscht ihm, er möge „Ruhe in den Karton bringen“. Dabei gilt Schröder gerade in Wahlkampfzeiten als eigensinnig und unberechenbar. Thomas Mirow lernte ihn schon als Juso-Vorsitzenden kennen. Er lächelt zuversichtlich. Er sagt: „Man merkte ihm auch damals an, dass er nicht gewillt war, sich in ideologischen Vorstellungen zu verkriechen.“