Die Schreie Carmens in der Nacht

taz-Serie Kriegsende (Teil 3): Als die sowjetischen Soldaten im April 1945 Neukölln befreien, ist Gerda Steinke 19 Jahre alt. Rotarmisten vergewaltigen ihre Schwägerin und ihre Freundin Carmen

von PHILIPP GESSLER

Gerda Steinkes Schwägerin hat nie darüber gesprochen. Auch Gerda Steinke nicht. Jetzt, da ihr Bruder und seine Frau tot sind, redet die Berlinerin über das, was ihre Schwägerin in diesen Apriltagen 1945 erleiden musste. Die Frau ihres Bruder hat danach kein Kind mehr haben wollen – betonte auch öfters, sie würde alles Geld zusammen kratzen, um es wegzumachen. „Ich glaube schon“, sagt Gerda Steinke, „das hängt damit zusammen.“

Gerda Steinke wird 1926 in Neukölln geboren. Ihre Mutter kümmert sich um Haushalt und Kinder, ihr Vater ist Prokurist einer großen jüdischen Textilfirma. Es ist eine christliche Familie mit dem Nachnamen Petersohn, was damals und noch in der Nachkriegszeit für viele jüdisch klang. Deshalb flogen in den 30er-Jahren ab und zu Steine ins Haus, Halbstarke brüllen: „Petersohn, du Judenlümmel.“

Die jüdischen Firmenbesitzer halten viel von Gerda Steinkes Vater, wie sie erzählt. Sie wollen emigrieren und ihn dann als Chef des Unternehmens installieren, da sie ihm vertrauen. Deshalb empfehlen sie ihm, paradoxerweise, in die Partei einzutreten: So wäre die Sache getarnt. Es scheint zu klappen, aber dann übernimmt doch jemand anderes die Firma. Er hat ein goldenes Parteiabzeichen, war also ganz früh NSDAP-Mitglied. Und Petersohn wird entlassen.

Auch deshalb steht man dem Regime im Hause Petersohn eher fern. Gerda Steinke macht 1942 ihren Mittelschulabschluss und beginnt dann bei der Lufthansa in Tempelhof eine kaufmännische Lehre. „In Englisch war ich sehr gut“, sagt sie selbstbewusst. Vom Bund Deutscher Mädel kann sie sich mit ein paar Tricks drücken – „Heimabende, das war nicht mein Stil“.

Gerda Steinke ist ehrgeizig, gewinnt einen Berufswettbewerb, wird in ihrer Sparte Gausiegerin von Groß-Berlin und darf im April 1944 zum Reichsentscheid nach Straßburg fahren. Da will sie Reichsjugendführer Artur Axmann sehen. Als sich abzeichnet, dass er sie für eine Parteischule gewinnen will, zieht Gerda Steinke die Notbremse: Sie macht bewusst viele Fehler beim Reichsentscheid. Sie will sich nicht einspannen lassen.

„Man hat in dieser Zeit gelebt, man musste die Sachen mitmachen. Aber ohne innere Beteiligung“, sagt Gerda Steinke. Wie so viele Zeitzeugen, wechselt sie beim Gespräch vor der immensen Bücherwand ihres Wohnzimmer in das unpersönliche „man“, wenn es persönlich wird. Immerhin, bei der Lufthansa sei nie über Politik geredet worden, betont sie. Von Auschwitz habe sie nichts gewusst – und wer sich die alten Fotos aus dieser Zeit ansieht, auf denen sie den Betrachter so arglos wie nett anschaut, dem mag es schwer fallen, nicht daran zu glauben.

Tempelhof ist auch damals kein militärischer Flughafen, aber es gibt ein paar Jungens die Flakhelfer waren – ein Foto zeigt Gerda Steinke mit einem von ihnen, es sieht seltsam friedlich aus. Ihre IHK-Prüfung macht Gerda Steinke in einem zerstörten Haus, über Trümmer muss sie dorthin laufen. Ab dem 22. April 1945 hört man in der Emser Straße, wo die Petersohns leben, den Kanonendonner der sowjetischen Artillerie ganz nah. Ihre Mutter will die beiden Töchter nicht mehr aus dem hauseigenen Luftschutzbunker lassen.

Am 23. April aber geht Gerda Steinke doch noch mal zum nahen Bahndamm des S-Bahnhof Neukölln, weil dort ein Zug mit Lebensmitteln entgleist ist. Als Tiefflieger auf die plündernde Menge schießen, kann sie sich unter einen Waggon rollen. Eine Frau vor ihr schafft es nicht mehr, sie wird tödlich getroffen. Sie hatte nicht mehr erbeutet als Klopapier. „So will ich nicht enden“, schwört sich Gerda Steinke.

Am Nachmittag des 25. April hören die Petersohns erstmals russische Worte. Der erste sowjetische Soldat, der in ihren Keller kommt, will nur Armbanduhren und Ringe. Hier unten sind kaum Männer, aber dass ihre einjährige Nichte Bärbel ganz nahe bei ihnen ist, scheint Gerda Steinke und ihre Schwester zu schützen. Ein paar Russen, die ihre Schwester nach oben zerren wollen, lassen ab von ihr, sobald sie das Baby sehen. „Die Bärbel hat sie bewahrt“, sagt Gerda Steinke.

Ab Morgen des 26. April gehen sie erstmals seit Tagen wieder aus dem Keller ins Sonnenlicht. Auf der Straße steht eine „Stalinorgel“, mit der die Innenstadt beschossen wird. Horrormeldungen erreichen sie nun. Die 14-jährige Tochter eines benachbarten Metzgermeisters hat sich in den Tod gestürzt. „Da haben sich viele das Leben genommen“, erinnert sich Gerda Steinke. Die schlimmste Nachricht aber ist: Ihre Schwägerin ist mehrmals vergewaltigt worden. Die Frau ihres Bruders, der an der Front ist, wird auf einem Dachboden gefunden, mit einer Schlinge um den Hals, halb erstickt. Ihre Eltern hängen tot neben ihr – sie haben ihrem Leben vor Gram und Scham ein Ende gesetzt.

Die völlig verstörte Schwägerin wird mit in den Keller genommen. Am Hals hat sie die Blutergüsse von der Schlinge. Ihre Eltern werden in einem Massengrab am Richardplatz verscharrt. Gerda Steinkes Mutter beschließt: Der Keller ist nicht sicher. Wegen der nahen Garagen kommen immer wieder Rotarmisten. „Wir waren richtig ein Zielpunkt für die Soldaten“, sagt Gerda Steinke. Nachts sind sie meist besoffen, Schnaps ist begehrt. Die vier Frauen mit dem Kind fliehen aus dem Keller, weichen aus in eine Wohnung, wo noch andere Zivilisten sind.

Doch in der Nacht kommen wieder sowjetische Soldaten. „Frau komm“, hören sie, „das ist ein Begriff“, sagt Gerda Steinke. Zwei Frauen werden mitgenommen, doch die Petersohns haben Glück: Sie haben sich unter einem Tisch versteckt, dessen Tischdecke bis zum Boden fällt. Sie sehen nur die Beine von Rotarmisten, diese sehen sie nicht. Es passierte immer nachts, erinnert sich Gerda Steinke, wenn die Soldaten besoffen waren. „Das ist Nächte lang so weitergegangen.“

Die Mutter entscheidet: „Hier bleiben wir nicht, die kommen wieder!“ Die vier Frauen und das Kind kommen bei „Scheibchen“, einer Nachbarin, unter. Sie hat im vierten Stock eine Wohnung, deren Tür noch abschließbar ist. Ein alter Nachbar wimmelt Russen ab, die sich auf dem Weg zu dieser Wohnung machen: Dort oben sei alles zerbombt, lügt er.

Die Nächte sind schrecklich, es fehlt an Strom, Wasser und Essen. Und dann die Schreie der Frauen. Eines Nachts sind es die von Carmen, einer Freundin Gerda Steinkes. „Die hat so geschrien“, sagt sie. Carmen wird im gleichen Haus vergewaltigt, schreit Gerdas Namen dabei – warum, das weiß Gerda Steinke bis heute nicht. Sie hat mit Carmen nie mehr ein Wort gewechselt. Manche Frauen müssen wegen der Vergewaltigungen ins Krankenhaus. Ihre Verwundungen sind so stark, dass sie sonst sterben würden. Noch heute hat Gerda Steinke von Zeit zu Zeit Albträume wegen dieser Nächte.

Dann irgendwann Anfang Mai 1945 wird es ruhiger. Das Haus ist wieder abschließbar. Nur zum Wasser holen müssen sie raus, immer zu mehreren. Die jungen Frauen machen sich dazu im Gesicht dreckig, ziehen Kopftücher an: „Wir haben uns richtig hässlich gemacht.“ Dass Hitler Selbstmord gemacht hat, dass am 8. Mai die Kapitulation unterschrieben wird, bekommt Gerda Steinke kaum mit. „Die Gedanken kreisten nur darum: Wo kriegen wir was zu essen?“

Gerda Steinkes Schwägerin erleidet noch „einen zweiten Schock“: Sie muss ihre Eltern identifizieren, die umgebettet werden. In den Straßen stinkt es erbärmlich: überall Staub, Brände, verwesende Leichen, tote Pferde, denen das Fleisch herausgeschnitten wird. „Ich habe gedacht, du wirst nicht mehr leben können“, sagt Gerda Steinke. 19 Jahre ist sie.

Alles wird langsam besser, als die US-Soldaten in diesen Sektor Berlins einmarschieren. Schon im Sommer 1945 kann Gerda Steinke wieder tanzen gehen – die letzten beiden Kriegsjahre waren Tanztees verboten. Beim Tanzen lernt sie ihren Mann kennen, 1947 wird geheiratet. Bald feiert das Paar diamantene Hochzeit. Weil die Stasi ihren Mann gewinnen will, zieht die Familie 1954 nach Westdeutschland, kommt aber später zurück – eine andere Geschichte.

Gerda Steinke hat viel Geschichte angehäuft in ihrem Leben – und doch kann sie die letzten Kriegstage in Berlin so schildern, als lägen sie wenige Monate zurück. „Nie wieder Krieg!“ – das, sagt Gerda Steinke, sei ihre Lehre aus den Erlebnissen vor 60 Jahren, als der von Deutschen begonnene Krieg nach Deutschland zurückkam. „Nie wieder Krieg!“, der Satz klingt ein wenig fremd bei dieser würdigen alten Dame. „Ich bin gegen jeden Krieg“, versichert sie.