Laboratorium Ost

Heftig gedreht am Rad der Geschichte: Die dreimonatige Reihe „Und der Zukunft zugewandt – 40 Jahre DDR“ im Gorki-Theater-Studio gräbt sich durch die Halden der Jahre mit viel Schweiß

VON CHRISTINE WAHL

Als vor zwei, drei Jahren eine Invasion linientreuer „Zonenkinder“ über den Buchmarkt hereinbrach und Berufsossis wie Katarina Witt und Henry Maske durch „Ostalgie-Shows“ tingelten, glaubten Zeitgeistexperten, die DDR sei hoffnungslos erledigt und jede Chance zur differenzierten Aufarbeitung bis auf weiteres dahin. Das Berliner Maxim Gorki Theater hat mit der dreimonatigen Reihe „Und der Zukunft zugewandt – 40 Jahre DDR in Texten, Veranstaltungen und Kommentaren“ versucht, das Gegenteil zu beweisen und eine weiträumige Grabung nach dem auszulösen, was bleibt, wenn die Berufsossis niemand mehr fragt.

Der künftige Gorki-Intendant Armin Petras, die Dramaturginnen Annette Reber und Peggy Mädler haben ein intelligentes, anspruchsvolles Konzept entwickelt. Seit Mitte Januar ist die Studiobühne eine Art Laboratorium, in dem ostdeutsche Texte einem heutigen Blick unterzogen werden. Von 1990 an rückwärts zählend, wurde jedem DDR-Jahr ein exemplarischer Text bzw. ein markantes Ereignis nebst Regisseur zugeordnet. Am 9. April wird das Gorki beim DDR-Gründungsjahr 1949 angekommen sein, in zweiundfünfzig Veranstaltungen systemkritische wie -konforme Texte wieder gelesen und diskutiert, die Alltagskultur vom Comic bis zum Defa-Indianerfilm ausgeleuchtet und an schätzungsweise vierzig Regisseure Gagen überwiesen haben.

Wie sah sie nun konkret aus, die gesuchte Vielfalt der Blicke auf die DDR anno 2005 im Gorki-Labor? Ich habe mich drei Wochen lang – für den Zeitraum von 1965 bis 1955 – lückenlos auf den Praxistest eingelassen. Mein Einstieg: „Die Aula“ von Hermann Kant, eine linientreue Hymne auf die Arbeiter- und Bauernfakultät, welche in der Aufbauphase der DDR junge Arbeiter zur Hochschulreife führte und als Kaderschmiede für Führungskräfte galt. In ostdeutschen Schulen gehörte „Die Aula“ zur Pflichtlektüre: Unzählige Teenager-Generationen haben sich über dem Waldarbeiter Jakob Filter, der später einmal Hauptabteilungsleiter im Forstministerium werden wird, zu Tode gelangweilt. Johanna Schall scheint darin verblüffenderweise das Zeug zu einer Art „Feuerzangenbowle“ entdeckt zu haben. Anno 2005 rocken die ABF-Studenten Aufbauhymnen Ost, als handele es sich um Songs der Stones, und machen aus der Wohnungsnot des Vierbettzimmers die Tugend, sich vorm Einschlafen gegenseitig Brautwerbungstipps zuzusächseln. Die Textstelle, an der die Landarbeiterin Rose Paal die „erste Eins in der Geschichte der Arbeiter- und Bauernfakultät“ bekommt, weil sie sich nicht mit vorgekautem Wissen zufrieden gegeben, sondern „aber“ gesagt hat, zeitigte Hohnlachen – und wird denn auch fünf Abende später nachhaltig demontiert.

Das Jahr 1959 zeigt sie nämlich, die Perspektive der „Aber“-Sager: Uwe Johnsons literaturhistorisch einschneidende „Mutmaßungen über Jakob“, die von einem unter mysteriösen Umständen zu Tode Gekommenen, seiner im Westen gebliebenen Freundin, Stasibeamten und Schwierigkeiten mit der Utopie berichteten und radikal mit gängigen Erzählmustern brachen, wurden in der DDR nicht veröffentlicht. Leider gehört gerade die Gestaltung dieses Abends zu den vertanen Chancen, bei denen der Regisseur gar nicht erst nach einem Zugriff gesucht, sondern sich einfach in eine Lesung gerettet hat. Andererseits lassen solche Beiträge viel Zeit zur gedanklichen Abschweifung. Zum Beispiel zu der Frage, ob der Schweizer Kult-Theater-Regisseur Christoph Marthaler sich für seine großartigen Verhinderungschoreografien eigentlich von den Defa-Musicalfilmen inspirieren ließ, die man drei Tage früher gesehen hat. Oder warum die Regisseure im Gorki-Studio offenbar reihenweise vom Bild alter, mechanischer Schreibmaschinen heimgesucht werden: „Mutmaßungen über Jakob“ ist mindestens der siebente Beitrag, in dem diese Geräte als tragende Requisiten zum Einsatz kommen.

Schon einen Abend später gelingt nahtlos der Anschluss ans Computerzeitalter. Und zwar ausgerechnet mit der Bitterfelder Konferenz! Die kulturpolitisch einschneidende 1. Bitterfelder Konferenz von 1959 beschloss die Grenzaufweichung zwischen Kunst und Arbeitswelt, indem sie Künstler in Betriebe und Arbeiter in Schreibzirkel schickte. Peggy Mädler hat diesem Thema eine in vielerlei Hinsicht erhellende Perspektive abgewonnen, die den Wandel des Arbeitswelt- wie des Literaturbegriffs umfasste, indem sie zeitgenössische junge Autoren aufs Podium geladen und mit den Beschlüssen von 1959 konfrontiert hat.

Von der DDR entsteht also ein angemessenen heterogenes Bild: Geschichte ist bekanntlich nicht im Crashkurs zu haben und Erinnerung ein Prozess in der Grauzone zwischen Kinderbuchhelden, Jürgen Sparwassers legendärem Siegtor gegen die BRD, systemkritischer Literatur und sozialistischer Auftragsdramatik. Genau in dieser Stärke des Konzepts liegen aber auch seine Risiken: Aufgrund der Stoffvielfalt wird jede Inszenierung lediglich drei Tage geprobt und die Qualität der Abende schwankt konzeptionell wie schauspielerisch enorm: Die Bandbreite reicht von der österreichischen Jung-Regie-Einsteigerin, die die DDR mal eben sportlich gegoogelt und gleich mit der ersten Eintragung ihren Abend gefüllt zu haben scheint, bis zum feinnervigen Profigräber, der in tiefe Schichten vordringt.