in fussballland
: Selbstvergessenes Rodeo

CHRISTOPH BIERMANN, 44, über besondere Hand-und Fußtechniken des Brasilianers Ailton

Ailton entwickelte sofort echte Begeisterung dafür, mir zu zeigen, wie man ein Rind am Schwanz festhält. Er zog dazu seine Jeansjacke aus und erklärte ihre Ärmel zum Kuhschwanz, um die verschiedenen Grifftechniken vorzuführen. Mal fasste er die Hand links herum, mal rechts, aber immer hielt Ailton dabei den Ärmel bzw. den Schwanz, so fest es ging. Darum geht es bei der Vaquejada nämlich, einer im brasilianischen Norden sehr beliebten Form von Rodeo, in der der Stürmer von Schalke 04 immer noch gut ist. Das behauptete er jedenfalls, als er mir den Grundriss einer Arena für Vaquejada aufzeichnete.

Auf der rechten Seite sind die Tribünen für die Zuschauer, auf der linken Seite die Gatter für die Tiere, dazwischen ist eine Bahn, an deren Kopfende das Rind die Arena betritt. Dort warten zwei Cowboys, die es zwischen sich nehmen. Einer hält das Rind nur in der Spur, der andere hält sich mit der linken Hand am Hals seines Pferdes fest und schnappt sich dann mit der rechten Hand den Schwanz des Rindes, als wär’s der Ärmel einer Jeansjacke. So wird es auf eine neun Meter breite Zone zugetrieben, denn nur dort darf der Cowboy das Rind herumreißen. Das Ganze muss in hohem Tempo vonstatten gehen, denn nur dann bringt man ein so großes Tier mit einem Ruck zu Boden. Das sei wie beim Fußball, erklärte Ailton, wenn er schnell laufen würde und dabei einen Schubser bekäme, würde er weit fliegen. Dazu verwirbelte er erklärend seine Hände, und so langsam wurde mir Ailton richtig sympathisch.

Erwartet hatte ich das nicht, die Aussicht auf ein Interview mit ihm hatte mich alles andere als in Begeisterung versetzt. Ich hatte es bereits ein halbes Jahr zuvor einmal mit ihm versucht, was sich damals als ziemlich unergiebig erwies. In meinem Kopf hatte sich anschließend ein Bild von Ailton verfestigt, nach dem er das ist, was man früher einen Dummkopf nannte. Die Intelligenz einer Hausstaubmilbe hatte ich ihm sogar irgendwann schlecht gelaunt attestiert, als er wieder mal „Das isse Ailton“ sagte, nachdem er ein Tor erzielt hatte.

Dem Treffen mit ihm hatte ich auch deshalb mit Grausen entgegengesehen, weil das Interview für eine ausländische Zeitschrift geführt werden sollte, die vor allem Wert darauf legt, dass die Fußballspieler sehr ausführlich zu Wort kommen. Weil Ailton meiner Erinnerung nach jedoch nie etwas Erinnerungswürdiges über Fußball gesagt hatte, war es mir ratsam erschienen, die Gesprächsthemen auch auf die Freuden des nordbrasilianischen Landlebens auszuweiten. Erfreulicherweise war ein Dolmetscher dabei, der teilweise gar nicht mitkam, so enthusiastisch erklärte Ailton seine Passion dafür, „die Kuh“, wie er zwischendurch auch auf Deutsch sagte, am Schwanz zu ziehen.

Das Reden über die Vaquejada führte zu den schwierigen Anfängen seiner Karriere, denn sein älterer Bruder, der selbst Fußballprofi war, hatte sein Talent erkannt. Als Ailton erstmals sein Heimatdorf verlassen musste, war er nach zwei Tagen wieder zurück. Der Stürmer erzählte vom Heimweh und wie seine Mutter ihn überredet hatte, doch wieder zum Profiklub in die große Stadt zu gehen. Immer mehr vergaß er, während er so sprach, seine übliche Aufführung „Fußballstar Ailton“. Denn nicht nur sein Stummeldeutsch lässt ihn sonst so beschränkt erscheinen, mehr noch sind es seine schlichten Posen eines coolen Stars. Vielleicht denkt er, dass er auf diese Weise die Erwartungen des Publikums bedient, vielleicht aber sind es auch nur seine eigenen Erwartungen.

Nun aber, für einen Moment selbstvergessen und dadurch ein netter Kerl, machte er sogar erhellende Anmerkungen zur Arbeit seines Trainers und erklärte, was Jupp Heynckes aus seiner Sicht falsch gemacht hatte. Revolutionäre Tiefenanalysen waren das nicht, aber durchaus nachvollziehbare Beobachtungen. Und wenn Ailton demnächst mal wieder seine schlechte Aufführung vom Fußballstar Ailton macht, lasse ich ihn machen – und im Geiste die Kuh am Schwanz ziehen.