Elternstreit hält Kinder klein

Im Vergleich zu den Menschen im Mittelalter sind wir Riesen. Neben der Nahrung beeinflussen noch zahlreiche andere Faktoren unser Wachstum

Der Mensch wächst. Die Ritterrüstungen des Mittelalters reichen gerade eben für heutige Kinderkonfektionen, und noch vor hundert Jahren betrug die durchschnittliche Körpergröße deutscher Rekruten gerade einmal 1,64 Meter. Mittlerweile kommt der Bundeswehr-Anfänger auf 1,78 Meter im Durchschnitt. Doch welche Faktoren letzte Endes über unsere Körpergröße entscheiden, ist schwer zu sagen. Denn Wachstum ist ein hochkomplizierter Prozess, an dem alle Körpersysteme beteiligt sind. Bis ein Mensch seine Endgröße erreicht hat, muss er diverse Wachstumsschwankungen erdulden.

Im ersten Lebenshalbjahr legt er ungefähr 16 Zentimeter an Länge zu. Die amerikanische Medizinerin Michelle Lampl beobachtete in ihren Studien ein männliches Baby, das in einem zweiwöchigen Abschnitt täglich um etwa mindestens 0,6 Zentimeter an Länge zulegte. Ab dem zweiten Lebensjahr bis zur Pubertät geht es dann mit 6 Zentimetern pro Jahr gemächlicher voran, um schließlich bei den Mädchen zwischen 11 und 16 und bei den Jungen zwischen 13 und 19 noch einmal an Tempo zuzulegen. Und diese Zunahme kann schmerzhaft sein. Bis zu 20 Prozent der Kinder klagen über diffuse Schmerzen, vor allem in den Knien: den Wachstumsschmerz. Vor einige Jahren wurde er von vielen Ärzten ignoriert, mittlerweile ist anerkannt, dass die Temposchwankungen beim Größerwerden den Sehnen- und Muskelapparat enorm belasten können. Doch man sollt die Diagnose „Wachstumsschmerz“ nicht zu voreilig stellen. Denn letzten Endes könne, so der Aachener Orthopäde Klaus Birnbaum, nur eine gründliche Diagnose per Röntgen- und Blutbefund abklären, ob die Beschwerden nicht vielleicht durch Rheuma oder sogar einen Knochentumor ausgelöst wurden: „Das Wachsen der Kinder kann weh tun, doch eine Fehldiagnose noch mehr.“

Die Wachstumsschmerzen kommen vor allem nachts. Warum das so ist, erklärt eine Studie der Universität Madison, USA. Dort befestigte man an den Beinknochen von Lämmern spezielle Sensoren, die den Forschern exakte Daten über die Wachstumsphasen der Tiere lieferten. Das Ergebnis: Die Tiere wuchsen zu 90 Prozent in der Nacht.

Auch Kinder mit ungesunden Ernährungsgewohnheiten wachsen unregelmäßig, und bei schweren Krankheiten kommt es erst einmal zum Wachstumsstopp, um Kräfte zu sparen, und danach zu einer regelrechten Wachstumsexplosion. Selbst Schulstress und familiäre Konflikte beeinflussen das Wachstum. Einer britischen Studie zufolge haben Kinder bei Streit oder emotionalen Konflikten wie Scheidungen ein fast doppelt so großes Risiko, unter der durchschnittlichen Körpergröße zu bleiben. Ein Siebenjähriger aus unharmonischer Familie ist um etwa 7 Zentimeter kleiner als ein Kind gleichen Alters aus stabilen Verhältnissen. Die wahre Größe eines Menschen entwickelt sich eben nur in Harmonie – und das beschränkt sich nicht nur auf die Körpergröße. Die Forscher fanden bei Kindern aus zänkischem Elternhaus auch deutliche Defizite in der Hirnentwicklung. JÖRG ZITTLAU