Richter sprengen Kessel

Bei den Castor-Transporten ins Wendland hat die Polizei jahrelang Tausende von AKW-Gegnern eingesperrt. Jetzt urteilte das Oberlandesgericht: oft zu Unrecht. Initiative verlangt Schadensersatz

von Armin Simon

Tausende von Demonstranten, die in den Jahren 2001 und 2002 bei den Castor-Transporten von der Polizei eingekesselt und zum Teil tagelang eingesperrt wurden, haben nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Celle möglicherweise Anspruch auf Schadensersatz. In drei Fällen gaben die Richter Niedersachsens jetzt in letzter Instanz Atomkraft-GegnerInnen recht, die sich gegen die illegale Freiheitsberaubung durch die Polizei gewehrt hatten. Auch unangemeldete Demonstrationen direkt neben den Castor-Gleisen, urteilten die Richter, seien zunächst einmal vom Grundgesetz geschützte Versammlungen, gegen die die Polizei nicht ohne weiteres vorgehen dürfe.

Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg wertete die Urteile als bahnbrechenden Erfolg. „Knüppelschwingende Horden“ von Polizei- oder Bundesgrenzschutz-BeamtInnen, die ohne Vorwarnung über Demonstrationen in der Nähe der Gleise her fielen – wie des Öfteren geschehen –, dürfe es nach diesem Richterspruch nicht mehr geben, sagte Sprecher Francis Althoff. Die RichterInnen hätten überdies klargestellt, dass „man nicht mehr als Schwerkrimineller angesehen werden darf, wenn man eine Versammlungsverbots-Zone betritt“. Eine solche weist die Bezirksregierung Lüneburg seit Jahren links und rechts der Castor-Transportstrecke aus.

In den jetzt vor Gericht verhandelten Fällen hatte die Polizei jeweils Demonstrationen in der Nähe der Castor-Gleise in oder bei Hitzacker ohne vorherige Ankündigung eingekesselt. Zum Teil waren die Atomkraft-GegnerInnen noch nach Passieren des Atommüll-Zuges in die zur Gefangenensammelstelle umfunktionierte ehemalige Kaserne in Neu-Tramm verfrachtet und dort stunden- oder gar tagelang eingesperrt worden. Für den Transport im Polizei-Auto sowie für die Unterbringung in den in der Kaserne aufgestellten Käfigen wollte die Polizei noch Gebühren kassieren.

Bereits das Amtsgericht Dannenberg hatte diese Praxis für illegal erklärt. Die Polizei hätte die Versammlung zunächst durch dreimalige Lautsprecherdurchsagen ordentlich auflösen und den TeilnehmerInnen Gelegenheit geben müssen, sich zu entfernen. Eine eventuelle Ingewahrsamnahme hätte zudem spätestens unmittelbar nach Durchfahrt des Atommüll-Zuges wieder beendet werden müssen. Das Land Niedersachsen sah das anders. Zweimal legte es Beschwerde ein – und scheiterte damit. Nach Ansicht der Celler RichterInnen ist selbst ein „allgemeines Tohuwabohu und Gerenne“ kein Grund, auf die ordentliche Auflösung einer Demonstration zu verzichten.

Den grundgesetzlichen Schutz öffentlicher Versammlungen missachtet hat die Polizei nach Aussage der Bürgerinitiative nicht nur bei den Festnahmen in Aljarn und Hitzacker 2001 und beim Kessel auf dem Gelände der Freien Schule in Hitzacker 2002, sondern auch 1996 beim Kessel in Karwitz, 1997 beim Langendorfer Kessel sowie 2003 bei den Einkesselungen in Grippel und der des Dorfes Laase. „Tausende Atomkraftgegner wurden über die Jahre kriminalisiert und zu Unrecht ihrer Freiheit beraubt“, unterstrich Althoff. Er forderte die Landesregierung zu einer „unbürokratischen Entschädigungsregelung“ auf. Im Innenministerium und bei der Polizei war dazu am Freitag keine Stellungnahme mehr zu erhalten.

Az.: 22 W 6/05, 22 W 7/05, 22 W 8/05