Das Problem: die Eltern

15 Prozent aller Berliner Schüler bleiben ohne triftigen Grund an mehr als zehn Tagen pro Halbjahr dem Unterricht fern. Hauptsächlich betroffen: Jugendliche an Haupt- und Sonderschulen

VON MAREIKE KNOKE

Die siebenjährige Jessica erschien nicht zum Schulunterricht. Die Schulbehörde schickte Bußgeldbescheide an die Eltern, Sozialarbeiter klopften an die Wohnungstür. Irgendwann, nach Wochen, wurde die Polizei vorstellig. Doch da war es zu spät: Das kleine Mädchen aus Hamburg-Jenfeld war tot – verhungert und zu Tode gequält von den eigenen Eltern. „Wie konnte das nur passieren?“, gellte ein Aufschrei quer durch alle Medien. Und mit ihnen schrien Lehrer, Sozialpädagogen und Jugendamtsmitarbeiter, nicht nur in der Hansestadt.

Die Geschichte beschäftigt auch Berliner Pädagogen, die sich intensiv mit dem Thema Schulverweigerung auseinander setzen. Berlin ist, neben Hamburg und Niedersachsen, eines der wenigen Bundesländer, die überhaupt eine Statistik dazu führen. Gut 50.000 – 15 Prozent aller Berliner Schüler – bleiben laut einer Erhebung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport aus dem Jahr 2002 ohne triftigen Grund an mehr als zehn Tagen pro Halbjahr dem Unterricht fern. Rund 4.000 von ihnen erscheinen sogar an mehr als 40 Tagen nicht in der Schule. Hauptsächlich betroffen: Jugendliche zwischen 13 und 16 an Haupt- und Sonderschulen.

So wenig der „Fall Jessica“ auf den ersten Blick mit Berliner Schulschwänzern zu tun haben mag, weist er auf ein Problem hin, dass kürzlich in größerem Kreis auf einer Tagung der Bürgerstiftung Berlin diskutiert wurde: In vielen Fällen sind die Eltern das eigentliche Problem. Oft arbeitslos, perspektivlos und manchmal – in Migrantenfamilien – auch sprachlos, ist es ihnen gleichgültig, ob der Nachwuchs zumindest den Hauptschulabschluss schafft. Bußgeldbescheide werden einfach ignoriert.

Dem gegenüber stehen, verstreut über alle Bezirke, vereinzelte Projekte an Schulen und in freien Einrichtungen, die sich um die Wiedereingliederung dieser „schuldistanzierten“ Kinder und Jugendlichen bemühen und das Schlimmste verhindern wollen. Zum Teil – wie etwa an der Jean-Piaget-Oberschule in Marzahn oder der Rudolf-Diesel-Oberschule in Wilmersdorf (finanziert von der Bürgerstiftung Berlin) – sind es sozialpädagogisch betreute Sonderklassen. Ziel: Innerhalb von sechs bis zwölf Monaten sollen die in Kleingruppen unterrichteten Schüler wieder in den alten Klassenverband zurückkehren können. Andere – wie die Pommern-Oberschule in Charlottenburg – versuchen, das Problem mit gezielten Hausbesuchen bei den betroffenen Familien in den Griff zu bekommen. Dieter Hohn, Rektor der Pommern-Schule, war zuvor nach Irland gereist, um sich dort ein vergleichbares Projekt anzuschauen.

Solche engagierten Einzelprojekte sind jedoch bestenfalls Flickwerk. „Was wir brauchen, sind feste Stellen für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen an den Krisenschulen, die sich um die Problemkinder kümmern und die Schüler notfalls auch von zu Hause abholen“, fordert Ilka Knaack, Leiterin der vier Schulverweigererprojekte an der Jean-Piaget-Oberschule.

Doch zusätzliche Senatsmittel stehen nicht zur Verfügung, und auch die Jugendämter in den zum Teil hoch verschuldeten Brennpunktbezirken wie Neukölln oder Lichtenberg überlegen sich dreimal, wofür sie ihr Geld ausgeben. Der zuständige Staatssekretär Thomas Härtel meint dazu: „Das Thema ist sehr wichtig. Es kann aber nicht allein Aufgabe der Schule sein, soziale Probleme zu lösen.“

Norbert Weitel und Marianne Bieber, er Lehrer und sie Sozialpädagogin an der Rudolf-Diesel-Schule, sehen das anders. „Da gibt es Zwölfjährige, die am ersten Schultag mit ihrer Tasche unterm Arm alleine zu uns kommen und sich anmelden wollen“, sagt Norbert Weitel. „Die haben ein ungeheures Bedürfnis nach Zuwendung.“ Und Marianne Bieber ergänzt: „Bei meinen Elternbesuchen stehen mir manchmal die Haare zu Berge und ich denke: ‚In diesem Chaos kann kein Kind gedeihen.‘ “

Neben der fehlenden Finanzierung verzweifeln die Pädagogen vor allem an der schlechten Vernetzung der Schulen mit Jugendamt, Polizei, schulpsychologischem Dienst und freien Einrichtungen. „Das größte Engagement verpufft, wenn im Einzelfall nicht alle Institutionen an einem Strang ziehen und die internen Beratungswege so kurz wie möglich gestaltet werden“, sagt Ilka Knaack, an deren Schule der Bezirk eine zentrale Clearing-Stelle zum Thema Schulverweigerung eingerichtet hat. In Marzahn-Hellerdorf funktioniere die Kooperation gut. Die Erfolgsquote bei Schulverweigerern liege bei 80 Prozent, gibt die zuständige Schulrätin Heike Kaack an. Marianne Bieber dagegen berichtet aus Wilmersdorf: „Der Kampf darum, im Jugendamt endlich den richtigen Ansprechpartner ausfindig zu machen, war zermürbend. Wertvolle Zeit ging dafür drauf.“

Trotz des traurigen „Falles Jessica“ lohnt sich ein Blick nach Hamburg: Dort sind alle Schul-, Kinder- und Jugendberatungsstellen unter dem Dach „Rebus“ (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen) zusammengefasst. Direkte Ansprechpartner für die Schulen in den Bezirken sind multiprofessionelle Teams, die sich aus Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeitern und Jugendamtsmitarbeitern zusammensetzen. Endloses Hin- und Hertelefonieren und Streit über Zuständigkeiten fallen weg. In Berlin gibt es derzeit allerdings keine Pläne, diesem Modell nachzueifern.