Der Ball leidet wie ein geprügelter Hund

Der brasilianische Choreograf Aloisio Avaz hat mit „Kick fürs Leben“ aus seiner Begeisterung für Fußball eine soziologische Performance gemacht

„Theater muss wie Fußball sein.“ Brecht hat es gefordert, später waren es Zadek und Langhoff. Die Schaubühne hat diesen Wunsch nach Intuition und Massenwirksamkeit mit Wonne missverstanden und ihre Schauspieler öffentlich Ball treten lassen. Erinnern wir uns noch an Peter Handke, die „metaphysische Dimension des Balles“ und die „geschlenzte Seele“? Und hat nicht Klaus Theweleit mit „Tor zur Welt“ eine neue Steilvorlage zur ästhetischen Beschäftigung mit dem Sport geliefert? Nun ist wieder einmal ein Künstler der Lust am Ballspiel erlegen. Ein quasi naturwüchsiger Experte, denn Aloisio Avaz ist Brasilianer.

Für „Kick fürs Leben“ in den Sophiensælen hat der Choreograf neben Fußball noch die zweite Leidenschaft der Brasilianer mobilisiert: Samba. Munter trommeln die frieddrums Sambagrooves, während auf einem Bastard aus Hockey- und Hallenfußballfeld Spielerinnen des TSV Helgoland 97 kicken. Das hat Unterhaltungswert, auch wenn man den Damen ansieht, dass sie in der Landesliga in den Abstiegskampf verstrickt sind: keine Kunststückchen, keine Zauberei, der Ball ein geprügelter Hund.

Rund um die authentischen Elemente hat Avaz eigene künstlerische Bearbeitungen zum Ballspiel platziert. Tänzer, Schauspieler, Drummer und Fußballerinnen treten in einer Massenszene mal als amorphes Zuschauervolk auf, mal gruppieren sie sich zu willentlich geformten Blöcken. Das hat eine gewisse Kraft, wenngleich die La-Ola-Welle zur Eurythmieübung abrutscht. Der Schauspieler Gotthard Lange offeriert als Trainer gesammelte Theweleit-Thesen: der Fußball als Krönung der Zivilisation, der Ball als All und Urbild der Demokratie. Der Performer Jörg Schiebe liefert ein dadaistisches Kabineninterview. Die Tänzer Florian Bilbao, Rosiris Garrido und Stéphane Lalloz formalisieren einzelne fußballtypische Bewegungen. Sie entwickeln eine Kopfballchoreografie, frieren Zweikampfmomente ein und explodieren aus dem Stillstand in Bewegungskaskaden, wie sie allenfalls mit dem Finger beschleunigten Tipp-Kick-Figuren möglich ist, nicht aber den vergleichsweise behäbigen realen Spielsportathleten. Moderne Trainer sollten das Trio zum Training einladen.

Avaz und sein Team präsentieren einen multiperspektivischen Blick auf den Fußball. Sie haben ihre soziologisch geprägten Hausaufgaben gut gemacht und die einzelnen Episoden zu einem kurzweiligen Stück verbunden. Das existenzielle Moment am Fußball, das Jubilieren der Seele, wenn ein Tor gefallen, ein großer Sieg errungen ist, die tiefe Depression, in die man nach einer Niederlage stürzen kann, das Sichergötzen an der „Hand Gottes“ (Maradona), die Empörung über Betrug (Hoyzer) – all das bleibt außen vor. „Kick fürs Leben“ versagt sich den Kick und erschöpft sich in gepflegtem Kurzpassspiel zwischen den Strafräumen. Seit Catenaccio, kontrollierter Offensive und dem Skandal von Gijon (WM 82 Deutschland – Österreich) muss man präzisieren, welchen Fußball man zum Leitbild des Theaters küren will. TOM MUSTROPH

Heute und Sonntag, jeweils 20 Uhr