„Das waren doch keine Soldatenspiele mehr“

taz-Serie Kriegsende (Teil 4): Der Berliner Helmut Sommer geriet als Hitlerjunge, bewaffnet mit einem Karabiner und einer Panzerfaust, in die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Europa, in die Kesselschlacht von Halbe. Zehntausende starben dabei. Seitdem ist der 74-Jährige ein Pazifist

„Ich machte mir vor Angst in die Hosen, fing an zu beten, schrie laut“

VON PHILIPP GESSLER

Jetzt übertreibt er wieder, der Opa! Johannes und Sebastian wollen mit der Fähre auf die Insel Scharfenberg im Tegeler See. Prächtig ausstaffiert sind sie für den Kindergeburtstag: Zwei Spielzeugschwerter haben sie dabei und eine Knallpistole. Aber der Opa mag keine Waffen und keine Knallerei. Schießbuden auf Jahrmärkten sind ihm ein Gräuel, Raketengeheul zu Silvester findet er unerträglich. Und dass Straßenbahnfahrer und Bahnschaffner eine Uniform tragen, hat er nie eingesehen. Kurzer Hand entwaffnet er an der Fähre seine Enkel. Und ärgert sich heimlich, dass er bei seinen Kindern Holz- und Gummischwerter früher zuließ. Aber so ist das, im Alter werden manche Menschen radikaler – und Kindheitserinnerungen kommen wieder hoch.

Helmut Sommer (74) hat keine schlechten Erinnerungen an seine frühen Jahre, „eine gute, nette Kindheit“, nennt er sie heute. Der Berliner wuchs auf in Lagow, einem Kurort in der Neumark, die heute zu Polen gehört. Von seiner alten Heimat hat er ein paar eigenhändige Aquarelle in seiner Wohnung in Spandau hängen. Wer sie anschaut, kann sich vorstellen, dass man dort glücklich groß werden kann, und tatsächlich ist auf den ersten Blick alles gut: Die Eltern haben ein Lebensmittelgeschäft, ausreichend Umsatz und eine funktionierende Ehe.

Wenn da bloß der Krieg nicht wäre! Helmuts Vater wird eingezogen. Auf den stolzen Brief des Sohnes, dass er nun bei der Hitlerjugend Fähnleinführer ist, reagiert er zurückhaltend: Ihm wäre es lieber, schreibt der Vater zurück, wenn er eine Zwei in Mathematik hätte. Aber Helmut ist „stolz wie ein Spanier“, wie er sagt, auf seinen Posten als Führer des Fähnleins 128-8. Immerhin etwa 100 Jungens kann er nun führen. Es geht um viel Sport, etwas Pfadfinder-Romantik: „Das Politische spielte so gut wie keine Rolle“, erinnert er sich heute, „ich habe mir nicht den Kopf zerbrochen – wer tut das schon als 13-Jähriger?“

In der Schule lässt ein Lehrer auf einer Landkarte die deutschen Geländegewinne durch Fähnchen einstecken – „das hörte irgendwann auf“, erzählt Sommer, und was das bedeutet, „wurde uns schon klarer“. Aber: „Wir glaubten natürlich, dass wir den Krieg gewinnen.“ Kriegsbegeisterung ist dies nicht wirklich, zumal sie spätestens dann aufhört, als der Bruder des besten Freundes an der Front stirbt. Auch Helmuts Lieblingsonkel Wilhelm, „Töpperchen“ genannt, fällt im Januar 1945. „Den Krieg fand ich nicht in Ordnung, obwohl ich Krieg gespielt habe“, erinnert sich Sommer.

„Nicht Hitler, Deutschland sollte den Krieg gewinnen“, denkt Helmut damals – und im Winter 1944/45 bekommt er erstmals die Chance, diesem Denken Taten folgen zu lassen, zumindest theoretisch. Denn erst einmal bricht er sich Mitte Januar beim Skifahren ein Bein. Die Artillerie der Sowjets ist schon zu hören. Das Krankenhaus der Stadt wird verlegt nach Lübben im Spreewald. Helmut ist dabei, mit einem Gips bis zum Bauchnabel. Allein der Krankentransport im Zug dauert Tage, mehrere Tieffliegerangriffe sind zu überstehen.

In Lübben muss sich Helmut Ende Januar 1945 zunächst von einer schweren fiebrigen Angina erholen. Nach den verheerenden Bombenangriff auf Dresden am 13./14. Februar muss im Krankenhaus Lübben Platz gemacht werden für die Verletzten von dort: Helmut räumt sein Bett, nur halb gesund. Als Mitte März endlich der Gips abgenommen wird, ist das Bein abgemagert, das Knie steif und Helmut in einem natürlichen Entwicklungsschub einige Zentimeter länger.

Im Krankenhaus halten Werber der Wehrmacht nach „wehrfähigen Männern“ Ausschau – und Helmut meldet sich freiwillig: teils weil er da noch etwas „für Führer, Volk und Vaterland“ tun kann, wie er heute mit einem Kopfschütteln sagt, teils weil er sowieso ein neues Quartier braucht. Seine Mutter, die als Krankenschwester im Krankenhaus aushilft, protestiert heftig, aber er kann sich durchsetzen und landet im „Wehrertüchtigungslager“ (WE), einer Villa in Lübben. Er ist eigentlich noch zu jung mit 14 Jahren, eigentlich sollten die Jungs mindestens 16 sein, aber als Kanonenfutter tun es auch die Kinder.

Wegen seines noch lahmen Beins wird Helmut jedoch zu seiner Enttäuschung („Ich war schon ein bisschen traurig“) in die Küche abkommandiert. Immerhin darf er noch an einer Art Grundausbildung an Karabiner, Leichtmaschinengewehr und Panzerfaust teilnehmen. Hoffnung auf eine letzte Wendung des Krieges keimt auf, als Mitte April die Nachricht durchsickert, dass der US-Präsident Franklin D. Roosevelt gestorben ist. Der „Endsieg“ ist plötzlich die irre Hoffnung der Jungs in der Villa. Ein Kampf mit den Amerikanern gegen die Russen!

In diesen Tagen stattet Generalfeldmarschall Schörner der Villa einem Besuch ab. Der Kommandierende General der Südost-Armee ist eigentlich auf der Flucht, wie sich später herausstellt, aber erfüllt dann doch noch seine Pflicht, für ein paar mehr Heldentode zu sorgen: Er gliedert die etwa 30 Jungen des WEs in die „SS-Grenadierdivision Jungdeutschland“ ein. Jeder Jugendliche erhält ein Armband mit dieser Aufschrift. „Ich nahm das Band voller Stolz entgegen und nähte es auftragsgemäß an den linken Jackenärmel, eine Handbreit über dem Saum“, erinnert sich Sommer.

In der Nacht zum 20. April stehen „die Russen“ dann vor Lübben, das ganze WE wird an die Front geworfen – nur Helmut nicht, seine Gehbehinderung bewahrt ihn davor. Schon nach wenigen Stunden kehrt etwa die Hälfte der Jungen zurück in die Villa. Der Rest ist gefallen, wenige Tage vor dem Ende des Krieges. Es war die erste und einzige „Feindberührung“ der Jungen. „Das hat mich geschockt“, sagt Sommer heute, „das waren doch keine Soldatenspiele mehr.“

Der Rest der Jugendlichen flieht Hals über Kopf aus Lübben, zu Fuß in Richtung Beeskow. Auf beiden Seiten der Straße, der heutigen B 87, brannte der Wald lichterloh. Zwei oder drei Tage, die Erinnerung ist unklar, machen die Jungen Halt am Schwielochsee. Ständig rattern „Nähmaschinen“, sowjetische Doppeldecker, herunter und nehmen den Trupp unter Beschuss. Wenig Schutz bieten nur ein Meter tiefe „Sicherheitsgräben“, in die sich die Jugendlichen ducken.

„All mein bis dahin nur gespielter Heldenmut und meine Bereitschaft, für Führer, Volk und Vaterland zu kämpfen, brach in wenigen Stunden in sich zusammen“, erzählt Sommer, „ich machte mir vor Angst in die Hosen, fing an zu beten, schrie laut.“ Dabei sieht Helmut fast aus wie ein richtiger Soldat: Er hat einen Stahlhelm, einen Karabiner und eine Panzerfaust – nur die HJ-Uniform passt nicht ganz.

Von hier aus zieht die Truppe, die sich immer weiter auflöst, Richtung Westen und gerät in das, was Historiker später die „Kesselschlacht von Halbe“ nennen werden. Es ist in Europa die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkriegs und die letzte Hoffnung des Regimes – neben dem Kampf um Berlin. Schätzungen zufolge sterben in der Kesselschlacht etwa 30.000 deutsche Soldaten und 10.000 Zivilisten. Die Rote Armee hatte 20.000 Tote zu beklagen. Und mittendrin Helmut Sommer in einem immer größer werdenden Chaos von tausenden Zivilisten, Flüchtlinge meist: Frauen, Kinder und Alte mit Handwagen aus dem Osten, dazwischen Soldaten, Militärwagen und Panzer.

Der riesige Treck will Richtung Westen, zur Elbe, wo die Amerikaner sind, um ja nicht in die Hände „der Russen“ zu fallen. Dauernd geht die orientierungslose Masse in Deckung, weil Maschinengewehrkugeln von Tieffliegern oder Granaten einschlagen. Tagelang gibt es fast nichts zu essen und zu trinken. Der Treck auf Feld- und Waldwegen stockt von Zeit zu Zeit, wenn es „Feindberührung“ gibt. Helmut hat sein „Jungdeutschland“-Armband weggeschmissen, will nicht mehr kämpfen, er ist völlig übermüdet. „Ich wollte nur noch nach Hause zu Mutti“, erzählt er.

„Während meines ganzen ‚Soldaten-Einsatzes‘“, sagt Sommer mit überdeutlichen Anführungsstrichen im Tonfall, „habe ich nicht einen einzigen Schuss abgefeuert, geschweige denn gar eine Panzerfaust.“ Er erlebt, wie ein Kamerad neben ihm an der Hauptschlagader getroffen wird und verblutet, wie deutsche Panzer ohne Rücksicht auf die Zivilisten über Waldwege donnern, Flüchtlinge überfahren. Noch heute erschüttert Sommer, wie schnell er sich an das Leid, an Tote, Verwundete, Menschen mit abgetrennten Gliedmaßen gewöhnt. „Auch ich war in der Lage, neben einem Toten ein Stück Brot oder sonst was Essbares zu mir zu nehmen.“

Am Ende, es ist der 1. oder 2. Mai, humpelt Helmut in die Gefangenschaft, in die der Treck, aus einem Wald kommend, unspektakulär und widerstandslos marschiert. Der 14-Jährige geht auf Socken, er hat einen kleinen Bombensplitter am linken Fußknöchel – ausgerechnet am gesunden Bein. Helmut gibt seine Waffe ab, will sich noch unter die Frauen, Alten und Kindern schmuggeln, aber wird in den Trupp der Soldaten und Männer eingeordnet. Mit einem kleinen Trick gelingt ihm etwas später doch noch die Flucht. Dann ist der Krieg endgültig aus für ihn.

„Ich kann Ihnen nichts über meine Gefühle sagen“, meint Sommer heute, er sei eben völlig durcheinander gewesen. Nach dem Krieg kommen die schrecklichen Erlebnisse monatelang in den Träumen wieder – noch heute, etwa als der Anruf mit der Bitte um ein Interview mit dieser Zeitung kam. Sommer war 37 Jahre lang Lehrer. Die Schüler hätten sich durch seine Berichte über die Kriegserlebnisse und seine Mahnungen kaum berühren lassen: „Nach fünf Minuten hörten die nicht mehr zu.“ Zwei seiner Enkel sind zur Bundeswehr gegangen, einer will gar Pilot werden. „Natürlich bin ich enttäuscht“, sagt Sommer. „Das trifft“, sagt er zweimal.