Mourinhos langer Arm

Frank Lampard, 26, verkörpert mit seiner ultraeffektiven Sachlichkeit und seiner phänomenalen Spielintelligenz den FC Chelsea 2005. Heute will er das auch gegen die Münchner Bayern zeigen

AUS LONDON RAPHAEL HONIGSTEIN

Die Demarkationslinie zwischen Wahnsinn und Wertarbeit ist im Fußball oft erst nach dem Schlusspfiff erkennbar. Gegen 21.45 Uhr Ortszeit wird man mehr wissen; genauer gesagt, ob José Mourinhos aus akribischer Arbeit, nackter Arroganz, manipuliertem Blut, Rebellenromantik und einer guten Tonnenladung Hybris zusammengeschraubtes Gesamtkunstwerk es auch mit den nicht viel weniger abgeklärten, aber vergleichsweise ruhigen Münchner Pragmatikern aufnehmen kann. Wie immer das Spiel auch ausgehen mag, es wird SEIN Resultat sein, obwohl er ja gesperrt auf der Tribüne sitzt.

Fragt man irgendeinen Chelsea-Kicker, von der Nummer eins bis 35, hört man, dass die Mannschaft es genießt, im Windschatten des stoppelbärtigen Zampano spielen zu können. Das Kalkül funktioniert bisher, aber die Reibungsverluste werden größer. Schade ist besonders, dass bei all dem (inszenierten) Wirbel um den Mann aus Sétubal kaum noch über das extrem starke und darüber hinaus recht sympathische Team geredet wird. Das liegt auch ein bisschen an der Spielweise der „Blues“, die der nationalen Konkurrenz mit einer nahezu perfekten, aber für Premier-League-Verhältnisse recht unspektakulären Synthese aus englischem Flügelspiel und italienischer Defensivkunst enteilt sind. Individualisten müssen sich in den Dienst des Kollektivs stellen, und ähnlich wie bei den Bayern ist deswegen folgerichtig auch an der Stamford Bridge ein zentraler Mittelfeldspieler der wichtigste Mann auf dem Platz: Frank Lampard, 26, verkörpert mit seiner ultraeffektiven Sachlichkeit, dem unbedingten Siegeswillen und seiner phänomenalen Spielintelligenz den FC Chelsea 2005.

Der Sohn des ehemaligen Fußballprofis Frank Lampard Sr. kam lange vor Abramowitsch, im Jahre 2001, für 15,5 Mio Euro von West Ham United nach Westlondon und ist schon statistisch gesehen ein absoluter Ausnahmespieler: im September 2001 hat er zuletzt ein Ligaspiel für die Blauen verpasst. Sogar unter Mourinho-Vorgänger Claudio Ranieri, dem römischen Großmeister der Rotation, war „Magic Lamps“, so sein Spitzname bei den Kollegen, stets gesetzt. Als der überragende „box to box“-Spieler Europas setzt er in beiden Strafräumen Akzente, ist enorm torgefährlich und findet für komplizierte Probleme einfache Lösungen.

Der in einer teuren Privatschule erzogene Essex-Boy mit Einser-Abschluss in Latein war als Fußballer allerdings nicht immer so unumstritten. Zyniker meinten, er würde seinen Platz in der West-Ham-Elf weniger seinem Talent als der Tatsache verdanken, dass Trainer Harry Redknapp sein Onkel und sein Vater dessen Assistent war. Darüber hinaus schien ihm der frühe Ruhm nicht zu bekommen. Nach der EM 2000 war er zusammen mit den Nationalmannschaftskollegen Rio Ferdinand und Kieron Dyler in einen landestypischen Skandal verwickelt – das Trio hatte sich und eine junge Frau auf Zypern heimlich beim Sex gefilmt – und im September 2001 pöbelte er in betrunkenem Zustand amerikanische Touristen an, die wegen des Terroranschlags in New York in einem Londoner Hotel festsaßen. Chelsea verdonnerte ihn zu 80.000 Pfund Strafe.

Lampard landete damals mehr Treffer in der Nobeldisko „China White“ als im gegnerischen Strafraum, doch im ersten Jahr der Ära Abramowitsch entwickelte er sich zum absoluten Leistungsträger und Musterprofi. Für Mourinho ist die magische Leuchte aus Romford der verlängerte Arm auf dem Feld. Als der Coach vergangene Woche in Tel Aviv eine 90-minütige Rede vor israelischen und arabischen Trainern hielt, schloss er nicht zufällig mit einem Diabild, das ihn und Lampard in einer herzlichen Umarmung zeigte. „Wir lachen zusammen, vielleicht weinen wir bald auch zusammen“, sagte Mourinho.

Heute Abend muss es Lampard alleine richten. Im Erfolgsfall dürfte er schon bald zum zweiten echten Superstar seines Vereins werden. Der bisherigen Nummer eins würde er damit einen großen Gefallen tun – Mourinho könnte dann in Zukunft vielleicht etwas kürzer treten.