Das rückwärtige Amt

Fischer hat eine Aufarbeitung der Geschichte seine Hauses versäumt. Seine Diplomaten lieben die ehrende Rückschau

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Fritz Kolbe war ein unauffälliger Beamter im deutschen Außenministerium. Der Konsulatssekretär 1. Klasse kämpfte gegen Hitler. Er war einer der größten Gegner des Regimes.

Kolbe, der zwischen 1925 und 1945 im Auswärtigen Amt arbeitete, diente sich den Alliierten als Spion an. Er lieferte unter Einsatz seines Lebens den USA 1.600 geheime Dokumente. Die Briten nannten ihn Jahre später „die beste nachrichtendienstliche Quelle des ganzen Krieges“. In Westdeutschland galt so ein Mann nach 1945 als Verräter. Als Kolbe 1951 ins Auswärtige Amt zurückwollte, wurde ihm die Einstellung verweigert. Verantwortlich dafür war der damalige Leiter der politischen Abteilung: Herbert Blank, vormals Mitglied der NSDAP.

Im Sommer 2004 elektrisierte den deutschen Außenminister ein Buch, in dem die außergewöhnliche Geschichte dieses außergewöhnlichen Mannes Fritz Kolbe erzählt wird. Joschka Fischer las den 400-Seiten-Wälzer in zwei schlaflosen Nächten, und die Lektüre hatte für sein Ministerium Folgen. Knapp zwei Monate später wurde ein Vortragssaal in der Berliner Zentrale des Amtes nach Kolbe benannt.

Der Fall dieses mutigen Widerstandskämpfers galt dem 68er Joschka Fischer als Musterbeispiel für den selektiven Umgang des Auswärtigen Amtes mit der eigenen Geschichte. Die Ehrung für Kolbe untermauerte, welche zentrale Bedeutung in Fischers Leben die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit besaß. Und trotzdem hat er als Außenminister die NS-Geschichte des eigenen Hauses nie zum großen Thema gemacht.

Heute fällt ihm dieses Versäumnis auf die Füße. Auf Fischer lastet eine emotionsgeladene Vergangenheitsdebatte, und kurioserweise erscheint er dabei als eine Figur, die sich einer differenzierten Aufarbeitung angeblich verweigert. Ganz unschuldig an diesem verzerrten Bild ist Fischer nicht. Der ehemalige Straßenkämpfer hatte das Auswärtige Amt 1998 ja gerade mit einem demonstrativen Kontinuitätsversprechen übernommen. Da wollte er der distinguierten Diplomatenkaste nicht mit alten Nazigeschichten kommen.

Die jetzige Diskussion ist so kompliziert, weil es in ihr um Politik und damit um so ziemlich alles zusammen geht: das Gedenken an verstorbene Diplomaten, die Visa-Affäre, einen angeschlagenen Minister, die unterschiedlichen Welten eines Exsponti auf der einen und elitärer Spitzendiplomaten auf der anderen Seite. Dabei ist das Unheil nicht über Nacht über Fischer hereingebrochen. 2003 hatte er verfügt, dass in der Hauspostille internAA künftig keine ehrenden Nachrufe auf ehemalige NSDAP-Mitglieder mehr erscheinen dürfen. Anlass war eine Anzeige zum Ableben des Generalkonsuls a. D. Franz Nüsslein, eines verurteilten Kriegsverbrechers; diese Anzeige war, einer Tradition im Hause folgend, mit dem Zusatz „In ehrendem Andenken“ versehen. Fischers Weisung wurde aber offenbar nicht allen Mitarbeitern mitgeteilt.

Erst ein Jahr später wurde die Entscheidung bekannt, als dem verstorbenen Diplomaten Franz Krapf, früher Mitglied der NSDAP und der SS, in der Hauszeitschrift die Ehrung verweigert worden war. Daraufhin schalteten über 100 frühere und aktive Diplomaten aus Empörung eine Anzeige in der FAZ – und ehrten Krapf, der wie so viele ehemalige NSDAP-Mitglieder nach dem Krieg Karriere im Auswärtigen Amt gemacht hatte, auf ihre Weise.

Jetzt eskalierte der Streit vollends. Sonst ganz auf Zurückhaltung bedachte Beamte protestieren gegen die in ihren Augen pauschale Verurteilung in einem Leserbrief in intern AA. Der Schweiz-Botschafter schreibt einen ungewöhnlich kritischen Brief an seinen Minister, der prompt in Bild landet. Und der ohnehin angeschlagene Fischer reagiert immer nur. In einem Brief an alle Mitarbeiter vom 17. März 2005 verteidigte er seine Weisung. Das Auswärtige Amt habe sich „zu spät“ um die „personellen Kontinuitäten und Verbindungslinien“ zwischen NS-Verwaltung und neuem Ministerium gekümmert. Aber wieder ging er nicht systematisch an die Vergangenheit ran: Das Ministerium wäre mit einer historischen Aufarbeitung und einer Prüfung aller Einzelfälle von belasteten Mitarbeitern überfordert. Die Personalakten seien nicht vollständig, manchmal auch geschönt. „Die Aufarbeitung der individuellen Vergangenheit ehemaliger Amtsangehöriger ist und bleibt […] Aufgabe von Historikern“, schreibt Fischer.

Die Vehemenz der Debatte und die Illoyalität einiger Spitzenbeamter haben den Minister überrascht. Besonders verwundert ihn, dass seine eigene Vergangenheit als Beispiel dafür dienen soll, dass sich auch ehemalige NSDAP-Mitglieder zu guten Demokraten wandeln können. In der heutigen Ausgabe der Zeit kommentiert er das so: „Die Zeit von 68 wird mit dem völkermörderischen Nationalsozialismus verglichen.“ Fischer hofft jetzt, so hört man in seinem Umfeld, dass die jüngsten Kämpfe im Auswärtigen Amt doch noch in eine gründliche Aufarbeitung der eigenen NS-Geschichte münden. Vorstellbar sei, dass diese Aufgabe entweder von einer externen Historikerkommission oder einer eigenen Gruppe des Außenministeriums geleistet werde. Möglich sei auch eine Kombination von beidem. Von oben herab dekretieren wolle Fischer das jedoch nicht, heißt es. Die Akzeptanz für das ganze Unterfangen würde steigen, wenn es aus dem Apparat selbst initiiert werde.

Der einstige Sponti setzt auf eine Bewegung von unten.