Der Altruismus und die Mäusepolizei

WAGNIS Michael Kumpfmüller schreibt ein scheues, sanftes, aber kein ängstliches Buch über Kafka und Dora Diamant in Berlin: „Die Herrlichkeit des Lebens“

Kumpfmüller erzählt eine Liebesgeschichte; und viel eher die Doras als eine über Kafka

Es hätte ja so was von schiefgehen können. Ein Roman über die letzten Tage des Franz Kafka – eine Art Dokufiktion, mit „nachgespielten Szenen“, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Oder eine Art „Der Untergang“, vonseiten der Literaturgeschichte aus, immer mit einem Ausgang, den man schon kennt. Und ein weichgezeichneter Kafka in seiner letzten Liebesgeschichte, in den Armen von Dora Diamant, der vielleicht einzigen Frau, die ihm gut war, der er gut war. Oje, oje, hätte das schiefgehen können.

Aber, Überraschung: Es geht sich gut aus mit diesem Buch, „Die Herrlichkeit des Lebens“ von Michael Kumpfmüller. Das Buch beweist Souveränität, und das liegt gar nicht mal an der Tatsache, dass Kumpfmüller das Geschehen wasserdicht ausrecherchiert hat, sondern das liegt an der Sprache, die er gewählt hat: etwas weichzeichnend, ja, dafür genau, schlicht; einfühlsam, ohne kitschig zu werden; ohne Tendenzen, ohne Skrupel, und tatsächlich eine Stimmung einfangend, die man mit dieser Zeit, 1923/24, Inflation, Depression, der frühe Vorabend der Machtergreifung der Nazis, verbindet. Und mittendrin und doch am Rand der sieche und allmählich verfallende Kafka, zuerst in Müritz an der Ostsee, wo er Dora Diamant kennen lernt, später in Berlin, wo er mit ihr drei verschiedene Wohnungen bewohnt, bis er zum Schluss im finalen Kleinsanatorium bei Wien endet.

Und natürlich werden die typischen Themen Kafkas verhandelt: die Mäusepolizei, die Angst, die Angst vor Nähe, die hier ein letztes Mal und ausnahmsweise überwunden wird. Die vielen Briefe, dieser ganze Korrespondenzwahnsinn, den Kafka zeit seines Lebens betrieben hat; und das Pendeln zwischen den Welten – der Welt der bedrohlichen Familie im heimischen Prag, der Welt der Verbündeten in Max Brod und anderen, auch in Kafkas Schwester Ottla – und eben die Fluchtorte und Kurbäder, die Sanatorien und Sehnsuchtsziele, Müritz, Schelesen, Wien, Berlin.

Kumpfmüller bleibt sehr dicht an den sogenannten realen Geschehnissen; die ganzen Kontexte und unterschwelligen Bedeutungen flicht er elegant in die Handlung ein; ansonsten hält er sich vorwiegend an der altruistischen Liebe Doras fest. Er erzählt eine Liebesgeschichte; und viel eher die Doras als eine über Kafka; von Kafkas Gefühlskälte und Berechnungsfähigkeit ist auch nur indirekt die Rede. Dass Dora für ihn auch die Chance war, seinen lang gehegten Traum von der Flucht nach Berlin wahr werden zu lassen – und dass es ihm dabei vielleicht sogar weniger um Dora als Person ging, wird allerhöchstens angedeutet.

Kumpfmüller, scheint es, hat sich ganz für die weiche Seite Kafkas entschieden. Die Seite also, die Milena Jesenská in ihrem Nachruf auf Kafka auch beschrieben hat: „Er war scheu, ängstlich, sanft und gut, doch die Bücher, die er schrieb, sind grausam und schmerzhaft.“ „Die Herrlichkeit des Lebens“ ist wie Kafka in persona: scheu, sanft und gut (ängstlich vielleicht nicht, Kumpfmüller erfindet so einiges, Ausrutscher gibt es in dem Buch aber keine), Kafkas Grausamkeit interessiert Kumpfmüller weniger, und sein Buch ist nie grausam und selten schmerzhaft. Das ist vielleicht auch gut so.

Aber auch und besonders für Kafkaisten macht der Roman hier Spaß. Auch weil einem so unglaublich viel dazu einfallen will: Gisela Elsners ehrenwerter Versuch zum Beispiel, Kafka von links zu kritisieren. Die Ausweglosigkeit und Absurdität des Lebens bei Kafka, so Elsner, lag darin begründet, dass Kafka wider besseren Wissens keine Aufklärung betreiben wollte, also auch nicht aus seiner (höheren) Klasse hinauskam. Was nicht falsch ist, aber blass bleibt. Oder Kafka selbst, sein letzter überlieferter Tagebucheintrag etwa, aus einer Zeit, als er noch nichts von seinem späten Glück mit Dora D. ahnte: „Immer ängstlicher im Niederschreiben. Es ist begreiflich. Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung – wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht ob Du willst oder nicht. Und was Du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen.“

RENÉ HAMANN

Michael Kumpfmüller: „Die Herrlichkeit des Lebens“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 240 Seiten, 18,99 Euro