In der Degendämmerung

Camp, camper, am campesten: Das Musical „Die Drei Musketiere“ am Theater des Westens zelebriert Dragqueenträume in Kardinalsrot, egozentrikerlanges Nackenhaar, kristallene Engel im Sündenfall und dann, natürlich: diese tollen Degenfechter

VON JENNI ZYLKA

Oh Musical, du fremde und seltsame Welt. Da laufen Stücke jahrelang, und man kennt niemanden, der je drin war. Da fahren regelmäßig Busse voller ZuschauerInnen von Fisselhövede nach Hamburg und von Oer-Erkenschwick nach Berlin, und alle scheinen auf Erwachsene in 80er-Jahre-Katzen-Verkleidungen zu stehen. Da werden Preise verliehen und Stars bejubelt, von denen man noch nie gehört hat. Und andauernd macht eine dieser obskuren großen Musical Companies Pleite, so hört man dann doch mal etwas davon.

Das neue große Ding ist jedenfalls „Die Drei Musketiere“ am frisch renovierten Theater des Westens, produziert von der „Stage Holding“, und es ist wirklich an der Zeit, sich endlich mal ein eigenes Bild zu machen, damit man bei den Trailern im Regionalfernsehen und angesichts der Plakate in den U-Bahnhöfen etwas anderes als obskuren Grusel empfindet. Die Drei-Musketiere-Geschichte ist natürlich klar, es gibt den spitzenmäßigen Richard-Lester-Film, in dem alles gesagt wird, und auch das Buch des Frauenhelden und Cliffhanger-Erfinders Alexandre Dumas ist bekannt: D'Artagnon, ein jugendlich-naiver, aber herzensguter und fechttechnisch äußerst versierter Bauerntölpel zieht es irgendwann im 17. Jahrhundert nach Paris, um dort Musketier des Königs zu werden. Der König hält sich seine eigene Leibwache, integre Degenhelden mit fesch ondulierten Haaren und stolzen Bärten, die sich am liebsten mit der persönlichen Armee der rechten Hand des Königs, Kardinal Richelieu, kloppen.

Dann spinnen Richelieu und die vom Schicksal schwer gebeutelte Ex-Zwangs-Prostituierte Milady de Winter eine Intrige, um den König und die Königin zu entzweien und damit einen Krieg zwischen Frankreich und England anzufachen. D'Artagnon und seine drei Lieblings-Musketier-Buddies Athos, Porthos und Aramis gehen dazwischen und am Ende sieht der Kardinal alt aus, und D'Artagnon wird mit Pauken und Trompeten in die Reihen der Königstreuen aufgenommen.

Im Theater des Westens singt D'Artagnon natürlich erst mal ein paar Lieder, bevor er überhaupt aufbricht nach Paris, und man überlegt, während man die Pferdedarsteller bekichert – zwei Menschen in einem Pferdekostüm, deren Köpfe absichtlich aus dem Kostüm herausstaken–, woran einen das erinnert: An einen Schlager. Diese deutliche Aussprache, dieses Pathos, diese Spielwut. Irgendwie an Roland Kaiser, als er in der Hitparade mit verzweifelt zusammengezogenen Augenbrauen „Manchmal möchte ich so gern mit Dir“ klagte. Nur, dass in der Hitparade nie solche Kostüme vorkamen, wie nennt man das denn wohl, Mittelalter-Gothic vielleicht oder Gaultier-Barock? Vor allem die rothaarige Milady de Winter schockt mit einem todschicken Fummel nach dem anderen, und alle schwarz, denn sie gehört ja schließlich zu den Bösen: Ponchos aus hunderten von bestimmt eigenhändig abgewürgten Nerzbabys, Röcke aus Lackleder, Bustiers aus Schnallen und Reißverschlüssen. Und ihr Freund und Kupferstecher Richelieu, dieser miese Gotteswortverdreher, trägt die schönsten Dragqueenträume in Kardinalsrot, samt Overknee-Stiefeln und Lederhose. Nein, so sah das um 1650 bestimmt nicht aus, aber: Who cares?

Richelieu wird vom Musicalstar Uwe Kröger dargestellt, aber mindestens genauso viel Respekt gebührt zum Beispiel dem Darsteller des Aramis. Beide haben diese mutigen Frisuren, vorne am Kopf angeklatscht, und dann hinten am Nacken egozentrikerlang. In manchen Kneipen würde man dafür aufs Maul kriegen, in manche dürfte man erst gar nicht rein. In unglaublichen Kulissen wird jetzt gesungen, der Hit ist „Einer für alle, und alle für einen, blitzende Säbel im Sonnenliiiiicht“, oder waren es funkelnde Degen, es geht so schnell mit den Nummern, manchmal sinniert man noch über die eine, und plötzlich singt schon wieder jemand „Mein Engel aus Kristall zersprang in 100.000 Scherben und schnitt tief in mein Herz, sie zerbrach an unser beider Sündenfall, mein E. a. K.“ usw., und darüber muss man natürlich auch nachdenken.

Die Geschichte, das wird schnell klar, ist jedenfalls eine ganze Portion umfangreicher als im Richard-Lester-Film, in der Pause ist D'Artagnon immer noch nicht aus London zurück, um das Collier der Königin dem englischen Buckingham-Herzog wieder abzuluchsen, damit die Königin es zum Ball tragen kann, aber schluck!, da sterben plötzlich sowohl D'Artagnons petite amie Constance, und dann singt die Milady, die vor ihrer zweiten Karriere als böse Hexe übrigens mal lieb und gut und mit einem der Musketiere liiert war, auch noch von ihrem aber hundertprozentig verkorksten Leben und bringt sich um! Das ist schlimm, denn so bleibt den wackeren Musketieren am Ende wirklich nur die Pflicht. Und D'Artagnon wird vom diesmal in blinkenden Strass gekleideten König zum Musketier geschlagen und hofft, dass sein toter Vater sich mit ihm freut. In Liedform, versteht sich, hofft er das.

Eine Tour de Force ist es gewesen, ein herrlich campiger Mummenschanz, bei dem immer, wenn man dachte, es geht nicht mehr kitschiger, plötzlich doch noch einer draufgesetzt wurde: Der offizielle Trash-Höhepunkt ist, wenn der Kardinal von seinen Visionen heimgesucht wird, eigentlich betet er nur, aber um ihn springen halbnackte, mit roten Flammensymbolen ein bisschen beklebte TänzerInnen herum, und das Ganze wirkt auch vom Sound her dramatisch wie Pia Zadora und Jermaine Jackson mit „And when the rain begins to fall“. Nachher drängelt man sich an den Musicalfans vorbei aufs Klo und trocknet die Tränen. Das ist es also, was die Busladungen aus Fisselhövede und Oer-Erkenschwick bei ihren Trips erleben. Respekt!