U-Bahn-Fahren erst nach 600 Deutschstunden

Auch bei den Integrationsmaßnahmen sieht die Bilanz nach den ersten 100 Tagen Zuwanderungsgesetz dürftig aus. Integration wird vor allem auf die deutsche Sprache reduziert, kritisieren die Organisationen der MigrantInnen

Wer keine Erfolge erwartet hat, der kann auch nicht enttäuscht werden. So nüchtern die Bilanz der Migrantenvereine nach den ersten 100 Tagen Zuwanderungsgesetz ausfällt, so eisern halten sie an ihrer Kritik fest, die sie vor dessen Verabschiedung bereits formuliert hatten: Eine sicherere Perspektive werde den Migranten auch weiterhin nicht geboten. Das Gesetz diene mehr der Gefahrenabwehr von Migranten als der Integration. Als „völlig verfehlt“ bezeichnet Eren Ünsal, Sprecherin des Migrationsrats, die so genannten Integrationskurse.

Der Migrationsrat, in dem 45 Organisationen vertreten sind, hatte bereits vor In-Kraft-Treten moniert, dass die Integrationsförderungen zu kurz kommen und die staatlich verordneten Angebote vor allem auf Deutschkurse reduziert werden. Gesellschaftsintegrierende Kurse würden dabei nicht ausreichend berücksichtigt, so Ünsal. Seit dem 2. Januar haben Neuzuwanderer zwar einen Anspruch auf staatliche Integrationsangebote, doch von den insgesamt 750 Stunden, die ihnen zustehen, sind zwei Drittel für den Deutschunterricht vorgesehen und nur 150 Stunden, die den frisch in Berlin eingetroffenen Mitbürgern praktische Überlebenstipps vermitteln – und das auch erst nach Ende ihrer Deutschkurse.

„Sie müssen 600 Stunden warten, bis ihnen erklärt wird, wie man U-Bahn fährt oder ein Konto eröffnet“, empört sich Safter Cinar vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg, der größten Migrantenorganisation der Stadt. Er verweist auf die Niederlande, wo den neuen Mitbürgern zunächst einmal 150 Stunden Sozialunterricht in der jeweiligen Heimatsprache angeboten werden. Bewährt hätten sich dort auch die 150 Stunden Arbeitsmarktorientierung, so Cinar. Speziell geschulte Mitarbeiter der Arbeitsämter widmen sich jedem einzelnen Einwanderer, um herauszufinden, welche Fähigkeiten sie mitbringen. Das vereinfachte die Integration in den Arbeitsmarkt erheblich, sagt Cinar – „für alle Seiten“.

„Im Grunde hat sich doch gar nicht viel geändert“, sagt Maciej Berlin vom Polnischen Sozialrat. Weder habe sich beim Familiennachzug etwas getan noch bei der Bleiberechtsregelung für Flüchtlinge. Er kann nach den ersten 100 Tagen nur in einem Punkt dem Zuwanderungsgesetz etwas Positives abgewinnen: Endlich werde mit dem Begriff Zuwanderung Migration positiv besetzt und nicht mit Bedrohung in Zusammenhang gebracht. Auswirkung habe das aber kaum. Der Vertreter vom Polnischen Sozialrat hofft auf den neuen Rahmenplan zur Integration, den der Landesbeirat soeben erarbeitet hat und der als Richtlinie künftig an allen Ämtern gelten soll. Berlin: „Das hätte es aber auch ohne Zuwanderungsgesetz schon geben können.“ FELIX LEE