Hallo Europa, wir kommen!

Die Gewerkschaften brauchen dringend Erfolge. Nach dem verlorenen Kampf gegen Schröders Agenda 2010 suchen sie ihr Heil jetzt in Brüssel. Die neuen Lieblingsvokabeln der Arbeitnehmerbosse lauten entsprechend – „europäisch“ und „europaweit“

AUS BERLIN THILO KNOTT

Die Gewerkschaften entdecken Europa. Etwas spät, aber noch nicht zu spät, wie führende Gewerkschaftschefs befunden haben. „Wir müssen die Verteilungsfrage wieder stellen“, sagte DGB-Chef Michael Sommer gestern auf einem Kongress der IG Metall in Berlin, „wir müssen sie europäisch stellen, weil wir sie national nicht mehr in den Griff bekommen.“ Auch IG-Metall-Chef Jürgen Peters hat erkannt: „Wer den Sozialstaat reformieren will, muss über die nationalen Grenzen hinausblicken.“

Das ist eine Wendung, die aus den Aktivitäten der Gewerkschaften in den vergangenen zwei Jahren nicht unbedingt herauszulesen war. Die nämlich konzentrierten sich, ganz national, auf den Kampf gegen die Agenda 2010 von Kanzler Gerhard Schröder (SPD), gegen Hartz IV, gegen die oppositionellen Angriffe auf die Tarifautonomie. Ein verlorener Kampf – nicht in der Tarifpolitik, aber in der Gesellschaftspolitik. Zum Protest 2003 gegen Schröders Agenda kamen nur 90.000 Menschen. Das Arbeitnehmerbegehren gegen den Sozialabbau brachte es zwar auf 750.000 Unterschriften, das sind aber auch nur knapp elf Prozent der DGB-Mitglieder (7,01 Millionen). Jetzt reden die Gewerkschaftschefs wieder mit dem Kanzler – und wollen im Dialog bleiben wegen Korrekturen an Hartz IV.

Ist Europa nun die neue Hoffnung der Gewerkschaften? Ist damit der Mitgliederschwund zu stoppen, der sich im vergangenen Jahr auf 350.000 Austritte summierte? Zumindest holten sich die Gewerkschaften ihre letzten beiden Erfolge auf europäischer Ebene – sagt DGB-Chef Sommer. Die zwei Beispiele: Da waren die europaweiten Proteste gegen den Automobilkonzern General Motors. Diese hätten gezeigt, dass Belegschaften in Großbritannien, Belgien, Deutschland, Schweden und Polen selbst in schwierigen Situationen zusammenhalten und dem Management Grenzen setzen würden. Und da war der Protest von 60.000 Gewerkschaftern in Brüssel gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie. Mit der Abwehr des Entwurfs der EU-Kommission hätten die Arbeitnehmer erfahren, so Sommer, dass grenzüberschreitende Aktionen erfolgreich sein können.

Sie sind aber immer noch die Ausnahme. „Wir hatten lange Zeit eher einen Diplomaten-Umgang“, sagt Sommer, „jetzt brauchen wir konkrete Projekte.“ Eines hat der DGB-Chef genannt: Er will „die Unternehmensteuer europäisieren“. Die EU solle die Besteuerung von Kapitalgesellschaften übernehmen und ihre Aufgaben aus eigenen Einnahmen finanzieren. „Ein wirklich konsequenter Schritt gegen Steuerdumping“, sagte Sommer. Ein anderes Projekt plant Peters: Der IG-Metall-Chef regte eine Diskussion an über europaweite Rahmentarifverträge – trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen in den 25 Mitgliedstaaten. „Damit wollen wir den Unterbietungswettbewerb etwa bei der Arbeitszeit beenden“, sagte Peters.

Der neue Fokus sei notwendig, sagt Bernd Schulte vom Münchner Max-Planck-Institut: „Die Gewerkschaften haben Europa vernachlässigt.“ Aber das wollen sie ja ändern.