Nach der Revolution

PREMIERE Dem Zaren waren die Figuren ergeben, aber was machen sie unter Stalin? Andrea Breth hat Isaak Babels selten gespieltes Stück „Marija“ in Düsseldorf inszeniert

Das vielköpfige Ensemble bleibt heterogen, von grandiosen Einzelleistungen wird es fast unbarmherzig überstrahlt

VON REGINE MÜLLER

Staffan Valdemar Holm hat Andrea Breth in der Vergangenheit mehrmals eingeladen, am Stockholmer Dramaten-Theater zu inszenieren. Doch immer wieder sagte Breth ab, mit dem schlagenden Argument, in einer fremden Sprache nicht arbeiten zu können und zu wollen. Nun ist Holm Intendant am Düsseldorfer Schauspielhaus, und Breth, die große Vertreterin des akribisch sich ausbreitenden Texttheaters, hatte keine Ausrede mehr.

Wieder hat es sie nach Russland gezogen, eine „Manie“, wie die sonst eher pressescheue Breth in einem der vielen Interviews vor der Premiere bekannte. Isaak Babels „Marija“ spielt um 1920 nach der russischen Revolution und entwirft in acht scharf geschnittenen, filmisch konzipierten Bildern mit 22 Figuren das gnadenlos brutale Gesellschaftspanorama einer Endzeit. Das – in der Düsseldorfer Fassung von Andrea Breth keine zwei Stunden dauernde – Stück des 1894 geborenen jüdischen Dichters aus Odessa, den Stalin 1940 umbringen ließ, ist kaum je auf einer deutschen Bühne gespielt worden, zuletzt inszenierte Jürgen Flimm das Werk 1976 in München.

Warum gerade jetzt „Marija“? „Weil ich glaube, dass wir uns in kürzester Zeit in ähnlichen Situationen befinden werden“, orakelte Breth, „es liegt Revolution in der Luft.“ Von Aktualisierung im landläufigen Sinne kann bei Breth in Düsseldorf aber keine Rede sein. Historisch korrekt sind die Kostüme (Moidele Bickel); das Bühnenbild von Raimund Voigt ist penibel, realistisch, manchmal streift es den folkloristischen Kitsch. Die Spielfläche des Großen Hauses wird mittels schwarzer Passepartouts zu puppenstubenartigen Räumen verkleinert. Die Wände schimmern matt in verwitterndem Grün, vom großbürgerlichen Mobiliar der Familie des ehemaligen zaristischen Generals Mukownin sind nur kümmerliche Überbleibsel geblieben, ein paar Stühle, natürlich ein Samowar und ein Flügel, der der alten Kinderfrau Njanja (Bärbel Bolle grandios in der fast stummen Rolle) inzwischen als Bügelbrett dient.

Zeichen der Zeit

Die Titelfigur Marija ist ein Phantom, denn sie tritt niemals auf, ist aber in den Gesprächen allgegenwärtig. Sie steht im Dienst der Partei, hält sich angeblich irgendwo an der polnisch-russischen Front auf und schickt der Familie einen zwischen Sorge und Gleichgültigkeit lavierenden Brief. Dennoch fungiert Marija als Hoffnungsträgerin der untergehenden Familie, hat sie doch offenbar als Einzige die Zeichen der Zeit erkannt und sich den revolutionären Umtrieben angeschlossen, derweil ihre Angehörigen immer tiefer in Apathie und Verzweiflung versinken.

Zu Beginn zerschneiden Geräuschfetzen auf beunruhigende Weise die Luft, doch das Spiel in der grünlichen Puppenstube lässt sich zunächst recht betulich an. Schieber mit geschmuggelten Würsten in den Hosenbeinen und Krüppel mit pittoresken Versehrungen bevölkern das erste Bild, der eisige Petersburger Hungerwinter draußen wird zwar behauptet, das Frösteln will sich aber nicht wirklich einstellen. Dann tritt die Generalsfamilie in Erscheinung: Beklemmend eindrücklich skizziert Peter Jecklin den seiner Welt beraubten Zarentreuen mit knappen Mitteln, Imogen Kogge sekundiert als Hausdame Katja bravourös mit eisigem Zynismus. Marie Burchard als Marijas Schwester Ludmilla gelingt es in ihrer Fahrigkeit nicht, ihren Niedergang – von der Generalstochter zum gefallenen Mädchen – plausibel zu machen. Wie überhaupt das vielköpfige Ensemble heterogen bleibt und von grandiosen Einzelleistungen fast unbarmherzig überstrahlt wird. Etwa von Christoph Lusers schöngeistigem Fürsten Golizyn, der sich mit seinem Cello in dreckigen Spelunken die einzige Mahlzeit des Tages erspielt und wie ein lungenkranker Moribunder aus dem „Zauberberg“ mit fiebrigen Augen und sanften Gesten umhergeistert.

Im letzten Drittel dann, wenn die geschändete Ludmilla auf dem Milizrevier verhört wird, entwickelt die Aufführung plötzlich einen Sog. Das Grauen kriecht nicht leise heran, sondern bricht schockartig ein. Gewiss, Breth hat die Katastrophe penibel vorbereitet, bereits in der nächtlichen Szene, in der Imogen Kogge dem katatonisch erstarrten General bei flackerndem Kerzenlicht Marijas Brief unter Lachanfällen vorliest, kriecht die Kälte langsam hoch, doch kommt der Schock der letzten Szenen doch unvermittelt und dafür umso wirksamer.