Viel Staub um nichts?

Bald wird Berlin gegen EU-Recht verstoßen, weil die Belastung mit Feinstaub zu hoch ist. Doch unsere Luft ist besser, als es die Debatte vermuten lässt. Höchste Zeit, Berlins Feinstaub aufzudröseln

von ULRICH SCHULTE

Wie schmutzig ist die Berliner Luft wirklich?

Sie ist besser, als es die aufgeregte Debatte vermuten lässt. Die Belastung mit den Giften Schwefeldioxid, Benzol, Blei oder Kohlenmonoxid ist zum Beispiel in den letzten Jahren so drastisch zurückgegangen, dass sie kaum noch eine Rolle spielt. Einige Gründe dafür sind: Die Industrie baute Filter ein oder ging kaputt, Kohleöfen in Privatwohnungen wurden durch moderne Heizungen ersetzt, auch aus Autoauspuffen kamen immer weniger Schadstoffe. Derlei moderne Errungenschaften wirkten sich auch auf den mutmaßlich Krebs erregenden Feinstaub aus: Schwebten 1994 noch rund 8.800 Tonnen pro Jahr durch die Gegend, sollen es dieses Jahr nur noch gut 4.000 sein.

Wo ist dann das Problem?

Die von der EU vorgeschriebenen Grenzwerte (siehe Kasten) müssen seit Januar eingehalten werden, die Weltgesundheitsorganisation hatte sogar noch stärkere Beschränkungen gefordert. In Berlin liegen die Jahresmittelwerte in den letzten Jahren an viel befahrenen Straßen mal knapp unter, mal knapp über der EU-Vorgabe. Das Problem sind die Tagesmittelwerte. Hier reißt Berlin die 35-Tage-Schwelle locker. Zum Beispiel in der Frankfurter Allee. Die AnwohnerInnen mussten hier im Jahr 2003 an genau 96 Tagen schlechtere Luft atmen, als die EU erlaubt.

Woher kommt das Zeug?

Zunächst: Feinstaub ist nicht gleich Feinstaub. Der wissenschaftliche Begriff PM 10 („Particulate Matter“, das sind Teilchen mit einer Größe von 10 Mikrometern) versammelt so unterschiedliche Partikel wie Dieselabgase, Reifenabrieb oder Aerosole, aber auch natürliche Teilchen wie Pollen oder Erdstaub. Laut Luftreinhalteplan stammen je nach Wetterlage 50 bis 70 Prozent des in Berlin gemessenen Feinstaubs von „draußen“, zum Beispiel von brandenburgischen Autobahnen oder südpolnischen Fabriken. 20 Prozent kommen aus Auspuffen von Dieselfahrzeugen, weitere 20 Prozent verursacht der Straßenverkehr durch Abrieb oder Staubaufwirbelung. Die letzten 10 Prozent entfallen auf hiesige Industrie, Heizungen oder andere Quellen.

Welche Rolle spielt das Wetter für die Feinstaubbelastung?

Eine entscheidende. Feinstaubteilchen sind so klein, dass sie sich fast wie ein Gas verhalten – und in der Luft problemlos weite Strecken schaffen. Wie gesagt, über die Hälfte des innerstädtischen Staubs reist sozusagen an. Tageshöchstwerte sind hier im Winterhalbjahr häufiger als im Sommer. Es bilden sich Hochdruckgebiete, die den Wind aus Richtung Südost kommen lassen und Stäube von Tschechien und Südpolen bis nach Berlin bringen. Liegt dann noch eine wärmere Luftschicht über einer kälteren – die klassische Inversionswetterlage –, sperrt also den Ausweg nach oben, entsteht eine Staub-Einbahnstraße: „Nach ein paar Tagen kommen dann hier zum Beispiel Abgase der polnischen Schwerindustrie um Katowice an“, sagt Meteorologe Eberhard Reimer, der an der Freien Universität Feinstaubtransport erforscht. Die Winterhochs sind meist stabil, sie halten sich bis zu zwei Wochen. Unabhängig vom Wetter ist übrigens eine unzulässige Spitzenbelastung sicher – an Silvester.

Wo ist die Berliner Luft besonders staubig?

Auch wenn viel aus dem Umland kommt, gilt die Regel: Wo viel Verkehr, da viel Staub. Besonders betroffen sind deshalb die 200.000 BerlinerInnen, die an Hauptverkehrsstraßen der Innenstadt leben. In der Stadt greifen ebenfalls thermische Effekte: Straßen, die von Nord nach Süd verlaufen, sind stärker belastet, weil sie von den hier vorherrschenden Westwinden schlechter belüftet werden. Gegenverkehr auf engem Raum und Stop-and-go-Verkehr wirbelt mehr Staub auf als konstante Fahrt in eine Richtung. Von Bedeutung ist außerdem, wie die Häuser stehen. Am Potsdamer Platz haben die Planer die Staubbelastung unfreiwillig minimiert, was den Latte-Schlürfern vor den Cafés aber eher unangenehm auffällt: Die Hochhäuser stehen so, dass starke Turbulenzen den Staub wegpusten.

Drei AnwohnerInnen der Frankfurter Allee klagen gerade beim Verwaltungsgericht gegen den Senat. Wie wird das Gericht entscheiden?

Unklar. Das Gericht betritt Neuland, selbst in der Stadtentwicklungsverwaltung freut man sich auf die juristische Klärung. Die Klage ist mit einem Eilantrag gekoppelt und liegt dem Verwaltungsgericht vor. Jetzt ist die Behörde am Zug, sie muss innerhalb von zehn Tagen Stellung nehmen, sagt Fabian Löwenberg, Anwalt der Deutschen Umwelthilfe. Die Organisation übernimmt die Prozesskosten. Das Gericht könnte also, wenn es nicht noch ein Gutachten einfordert, in den nächsten Wochen entscheiden. Die BürgerInnen fordern in der Klage sowohl Änderungen im Luftreinhalteplan als auch flächendeckende oder lokal begrenzte Fahrverbote für Autos ohne Dieselrußfilter.