Schönheit für alle

DEMOKRATIE Design nur für die Elite? Ein Konzept, von dem ein neues Berliner Brillenlabel wenig hält. Und so einer langen Tradition folgt

VON ENRICO IPPOLITO

Das Atelier von David Kamp und Lars Neckel ist gleichzeitig die Kommandozentrale für ihr kleines Internet-Brillenlabel „Owl“. Raue Wände, ein wenig chaotisch, aber gemütlich. Voller Bücher, Zeitschriften und Notizzettel. Die Berliner Designer und Inhaber Kamp und Neckel tragen ihre eigenen Brillen, so viel Bekenntnis zur eigenen Marke muss sein. Und bieten ihren Kunden Brillenfassungen inklusive entspiegelter Kunststoffgläser für 150 Euro an. Drei Modelle, unisex, drei Farben. Das Reduzierte, Schlichte ist das Besondere ihrer Brillen: Kein großes Logo ziert den Rahmen, stattdessen nur ein kleiner Kreis am Bügel. Die Botschaft: Diese Brillen sollen für sich selbst sprechen. Damit wandeln Kamp und Neckel ein wenig auf den Spuren Enzo Maris: Design für alle.

Dieser Grundsatz bewegte den italienischen Designer Mari schon in Siebzigern. Er wollte eine Art Gegenbewegung zu den Regeln des Kapitalismus starten. Mari schickte die Bauanleitung für seinen Stuhl „Sedia 1“ auf Anfrage gegen einen frankierten Briefumschlag zu. Als Teil der Serie „Autoprogettazione“ (zu Deutsch ungefähr: selbst gemacht) musste der schlichte, hölzerne Stuhl vom Kunden selbst zusammengenagelt werden. Dazu braucht man lediglich einen Hammer und zugeschnittenes Holz. Mari selbst verstand sich als kommunistischer Künstler. Zuvor hatte bereits der Niederländer Gerrit Rietveld den „Crate Chair“ entworfen: In den Dreißigern wurde sein Sessel ursprünglich aus Holzresten und Verpackungsmaterial produziert und als Bausatz zur Selbstmontage günstig angeboten.

Mittlerweile sehen Wohnungen weltweit gleich aus: Billy-Regale, Zitronenpressen von Philippe Starck und Macbooks. Konformismus überall. Doch die Sehnsucht nach etwas Besonderem oder Einzigartigem bleibt. Offenbar verliert Design seinen Reiz, wenn es Mainstream und vor allem erschwinglich wird. Der Markt und vor allem die Designerinnen und Designer versuchen zu reagieren: mit Verknappung und oft noch teureren Produkten.

Auch Kamp und Neckel bieten ihre Brillen in einer limitierten Stückzahl an, doch Maris Idee vom Design für alle, seinen kommunistischer Grundgedanke, wenn man das so nennen will, bleibt. Auf die Idee kam Kamp, der ursprünglich aus der Werbebranche kommt, als er selbst eine neue Brille suchte und von Auswahl und Preis erschlagen wurde. Gemeinsam mit Lars Neckel, der zuvor für die Berliner Brillenmanufaktur Mykita arbeitete, entwickelte er „Owl“.

Produktion als Schlüssel

Die Arbeiten des in Berlin geborenen kanadischen Designers Jerszy Seymour verfolgen einen anderen Ansatz. Seymour sitzt in seinem Loft-artigen Studio in Berlin-Mitte: Hinterhof, Holzdielen, Designbücher in Metall-Garagenregalen. Ihm geht es nicht primär um das Do-it-yourself-Prinzip oder darum, günstige Designobjekte zu entwerfen, sondern um ein besseres Bewusstsein. Sein Glaubensbekenntnis: „Produktion ist der Schlüssel.“ Sein Stuhl „Workshop Chair“ braucht weder Anleitung noch Bausatz: Schon beim Betrachten sei es ein Open-Source-Objekt, sagt Seymour. Heißt: der Stuhl kann auch nachgemacht werden. Seine Serie „The Amateur Project“ fand, wie der Designer selbst sagt, nicht in der Realität, sondern immer in artifiziellen Räumen wie Museen statt. Dort konnten Besucher mit Industriewachs und Holz den Stuhl kopieren. Damals war die Anleitung „Amateur Wax Manual“ Teil des Projekts und auf seiner Website verfügbar. Fans können sich nun für 460 Euro den „Workshop Chair“ in seinem Studio anfertigen lassen.

Die Entwürfe des Produkt- und Industriedesigners Jerszy Seymour wirken auf den ersten Blick Comic-artig, und hinter allem steht Konzept. Er spricht schnell, verweist auf seine Mind-Maps, die wie Kunst wirken, und schmeißt gern mit Begriffen um sich wie „Amateur“, „Workshop“ und „Vulkan“ – kontextualisiert sie aber anders. „Amateur“ verwendet er in Anlehnung an das lateinische „amator“, also Liebhaber. Den „Vulkan“ bringt er in Verbindung mit der Libido. Alles beginnt hier. Ganz nach dem Psychoanalytiker Sigmund Freud sollen innere Kräfte sich entfalten und bereits bestehende Strukturen öffnen oder gar sprengen.

Von allem zu viel, zu billig

Ein Gegenentwurf zu Ikea. Das schwedische Möbelimperium versteckt sich hinter der Begrifflichkeit des „demokratischen Designs“, ein Wortschöpfung des Ikea-Gründers Ingvar Kamprad. Dabei ist an Ikea rein gar nichts demokratisch – von allem zu viel, alles gleich, alles billig. Es wird für und auf Masse produziert. Vor allem schafft es Ikea, jegliche Individualität zu zerstören. Es sorgt für eine Art der Uniformität von Räumen.

Über Produktion und Herstellung haben sich auch die Brillendesigner Neckel und Kamp lange Gedanken gemacht. Sie wollten ihre Brillen gerne in Deutschland fertigen lassen. Doch weil in Deutschland randlose Brillen in Mode kamen, erlitten Azetat-Hersteller einen Einbruch, erzählt Kamp. Die Folge: Der Endpreis wäre teurer geworden, deutsche Produzenten waren über Monate ausgebucht. Und so fanden sie nach langem Suchen einen asiatischen Hersteller – trotz der kleinen Stückzahlen, in denen sie produzieren.

Obwohl sie ihre Brillen im Internet vertreiben, stehen sie nicht in Konkurrenz zu kleinen Optikern, sagen die beiden: „Wir haben uns mit dem Optiker-Standpunkt beschäftigt und glauben nicht, dass wir was wegnehmen. Irgendwo sind wir auch ein Laden.“ Und zwar ein Onlineshop, der Anfang September 2011 launchte.

„Demokratisierung und Design geht ja meistens in die Hose, weil es zum stilistischen Selbstzweck wird. Die Gefahr ist, dass man sich als Gestalter in den Vordergrund schiebt“, sagt Neckel. Die Gefahr für das kleine Label „Owl“ liegt aber in der Vereinnahmung durch den Markt.

Etwas, wie die Geschichte zeigt, nicht ganz Ungewöhnliches. Enzo Maris „Sedia 1“ ist von dem finnischen Hersteller artek aufgekauft worden. Dieser versendet die Bauanleitung und das Holz für 234 Euro plus Versandgebühren. Und auch Rietvelds Remake vom „Crate Chair“ kostet mittlerweile 960 Euro. Mit dem Grundgedanken, allen Menschen schönes und vor allem individuelles Design zu bringen, hat das nichts mehr zu tun.

Am besten beschreibt es die Idee des englischen Produkt- und Industriedesigner Jasper Morrison. Seine Idee ist das „supernormale Design“: real und verfügbar. Morrison liefert so eine Gegenbewegung zur Designifizierung. Sein Ziel ist die Zufriedenheit der Kunden, sie sollen sich lange mit dem Designobjekt umgeben. Etwas, das die Brillen-Designer David Kamp und Lars Neckel auch für sich in Anspruch nehmen. Nicht umsonst liegt Morrisons und Fukasawas Buch „Super Normal. Sensations of the Ordinary“ auf dem Tisch im Berliner Atelier.