„Hier gibt es ständig Widerspruch“

GÜNTER MORSCH

„Wer wie meine Söhne einmal mit Überlebenden privat zu tun hatte, vergisst das nie. Diese Menschen sind so außerordentlich liebenswert … das klingt etwas seltsam, ist aber auch aus ihrer Traumatisierung heraus erklärbar“

Jeden Tag führt ihn sein Arbeitsweg zu einem ehemaligen Konzentrationslager: Günter Morsch, Jahrgang 1952, leitet seit zwölf Jahren die Gedenkstätte Sachsenhausen, seit 1997 ist der Historiker Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Am kommenden Wochenende jährt sich die Befreiung des KZs zum 60. Mal. Mehr als 500 Überlebende und ihre Angehörigen werden nach Oranienburg reisen, um ihrer Leidensgefährten zu gedenken. Günter Morsch, selbst Bürger dieser Stadt mit SS-Vergangenheit, wird Sorge tragen, dass es ein würdiges Gedenken wird

INTERVIEW ANJA MAIER

taz: Herr Morsch, in welchem Raum treffen wir uns hier?

Günter Morsch: Mein Büro war früher die Adjutantur von Theodor Eicke, später von Richard Glücks. Das waren die beiden Inspekteure der Konzentrationslager, also die Verwalter aller KZs im deutschen Machtbereich nach 1938.

Ein bedrückender Ort.

Nun, bedrückender ist es, den großen Besprechungsraum ein paar Türen weiter zu benutzen. Der ist stark dominiert vom Geist der SS: mit mächtigen Eichenbalken an der Decke. Er ruft mir häufig in Erinnerung, was hier in Sachsenhausen geschehen ist: dass hier der Tod von Millionen Menschen geplant wurde. Allerdings habe ich auch schon mehrfach erlebt, dass gerade Überlebende – etwa vor einer Sitzung des Sachsenhausen-Komitees – sagen: Das hätte ich vor 60 Jahren nicht gedacht, dass ich einmal hier sitzen würde.

Ende dieser Woche jährt sich die Befreiung des KZs Sachsenhausen zum 60. Mal. Die Stadt Oranienburg hat ihre Bürger gebeten, bei Unterbringung und Begleitung der Überlebenden und deren Angehörigen zu helfen. Wie ist die Resonanz?

Bei der Unterbringung gab es Angebote. Aber davon haben wir deutlich Abstand genommen. Das geht schon logistisch nicht. Da kommen weit über 500 Menschen, und die müssen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten sein, das ist privat unmöglich zu organisieren. Wir haben sie jetzt in Hotels untergebracht.

Theoretisch wäre es möglich gewesen, dass ein Opfer im Haus eines Täters wohnt. War das auch ein Grund?

Das wäre sogar sehr wahrscheinlich gewesen. Es gibt hier ganz viele Häuser, in denen SS-Leute gewohnt haben. Aber dass die Überlebenden im Hotel wohnen, hat auch den Grund, dass sie sich gegenseitig mental festhalten. Für viele ist die Reise hierher nicht einfach. Sie birgt immer die Gefahr einer Retraumatisierung. Wir haben vor 10 Jahren, zum 50. Jahrestag, erlebt, wie Menschen durch die Wucht der Erinnerung verwirrt wurden und dann umherirrten. Deshalb haben wir auch viele Begleiter, meist Angehörige, eingeladen.

Am Auschwitz-Gedenktag, dem 27. Januar, haben Sie von Ihrem Hausrecht Gebrauch gemacht und der Brandenburger DVU-Fraktion den Zutritt zu den Feierlichkeiten untersagt. Gibt es Anzeichen dafür, dass kommendes Wochenende erneut rechte Parteien die Gedenkfeiern stören wollen?

Im Moment nicht. Die DVU wollte damals gezielt mit einem Kranzschleifen-Text und einer begleitenden Pressemitteilung provozieren. Wenn jetzt erneut so ein Fall käme, würden wir ihn beraten, auch mit den Überlebenden. Denn die Würde der Veranstaltung muss gewahrt werden. Und das Hausrecht gibt uns da sehr gute Möglichkeiten, da brauchen wir kein besonderes Gesetz. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir keine Probleme haben werden.

Wie sollte man einem Überlebenden die auch erklären?

Das könnte man nicht, das wäre wirklich schrecklich. Ich erinnere mich, dass es beim 50. Jahrestag der Befreiung ein Missverständnis gab. Da haben Antifa-Mitglieder bei der Rede des damaligen Außenministers Klaus Kinkel gepfiffen. Die Überlebenden sind zusammengezuckt, manche bekamen Panik. Auf diesem Gelände bewegen sie sich mit einer ganz dünnen Haut.

Über 300.000 Menschen besuchen jährlich die Gedenkstätte. Wie werden sie in Oranienburg empfangen?

Ich gehe mal von den Besuchern aus – davon, ob und worüber sie sich beschweren. Häufig geht es da um unfreundliche Taxifahrer. Die fragen Ausländer: „Was wollen Sie denn in der Gedenkstätte? Wir haben doch in Oranienburg auch schöne Orte wie das Schloss.“ Und es kommt vor, dass Gäste – ich sage mal – etwas robust behandelt werden. Dass man keine Auskunft gibt oder derlei. Die Beschwerden über Rechtsradikale im Umfeld des Bahnhofs und der Gedenkstätte sind in den letzten Jahren aber deutlich zurückgegangen.

Vor Jahren haben Sie kritisiert, dass jede noch so kleine Provokation Rechtsradikaler im Gedenkstättenumfeld von den Medien gemeldet wird. Sie haben diese Praxis geändert, um den Tätern kein Forum zu bieten. Hat sich das als richtig erwiesen?

Ja. Damals, Ende der 90er, war Sachsenhausen von allen KZ-Gedenkstätten die mit den häufigsten Propagandadelikten. Ein Rechter, der nach Sachsenhausen ging und irgendwas machte, konnte sicher sein, am nächsten Tag in der Zeitung zu stehen. Ein Hakenkreuz im Gästebuch wurde sofort als Schändung der Gedenkstätte beschrieben. Das hatte Nachahmungseffekte.

Wie gehen Sie heute mit solchen Vorfällen um?

Wenn wir den Urheber erwischen, machen wir das sofort öffentlich – Anzeige inklusive. Aber wenn wir keine Aussicht haben, den Täter zu nennen – etwa wenn auf einem anonymen Zettel am Besucherboard „Es lebe der Führer“ steht –, geben wir das nicht automatisch an die Medien weiter. Heute haben Nachahmereffekte erheblich nachgelassen.

Was heißt es, in der Nähe einer Gedenkstätte zu leben? Führt es bei Menschen, die in so einem Umfeld leben, zu Abkehr oder Hingezogenheit zu rechtem Denken?

Letzteres gab es in den frühen 90ern. Damals sammelten sich Cliquen am Bahnhof und überlegten: Was machen wir heute? Und dann zogen sie in die Gedenkstätte, um irgendwas anzustellen, meist mit rechtsextremem Inhalt. Das hat stark abgenommen. Die Gedenkstätte ist kein Sündenbock mehr für alles Mögliche, wo man sein Mütchen kühlt.

Wie war das bei Ihren Kindern?

Meine Söhne waren elf und sechs Jahre alt, als wir 1992 nach Oranienburg gezogen sind. Ich habe immer darauf gesetzt, dass sie von sich aus Interesse an meiner Arbeit entwickeln, und das war auch so. Sie müssen bedenken, dass bei mir oft Überlebende zu Gast sind. Und wer einmal mit denen privat zu tun hatte, vergisst das nie. Diese Menschen sind so außerordentlich liebenswert … das klingt etwas seltsam, ist aber auch aus ihrer Traumatisierung heraus erklärbar. Wer sie kennen lernt – und diese Chance hatten meine Kinder –, der identifiziert sich mit ihnen.

Dann ist es bei Ihren Kindern ja optimal gelaufen. Wie könnte man so etwas jedem Jugendlichen ermöglichen?

Genau dafür gibt es den Tag der Begegnung. Den ganzen Samstag werden sich Überlebende und Schüler treffen. Viele Jugendgruppen aus Brandenburg kommen, darunter nicht wenige aus Oranienburg. Wir konnten uns vor Anmeldungen nicht retten.

Dieses Wochenende ist ein Höhepunkt. Aber wie sieht der Alltag aus?

Sie meinen, wie das Verhältnis der Oranienburger zur Gedenkstätte ist?

Ja. Zur Gedenkstätte geht man eine gutbürgerliche Straße entlang. Die Häuser enden, dann beginnt das Grauen. Wie kriegt man Leute, die hier leben, dazu, sich mit dieser Geschichte zu befassen?

Das ist nicht so einfach. Dafür muss man sich klar machen, dass wir uns mit negativer Geschichte beschäftigen, der Geschichte von Verbrechen. Vor Ort spitzt sich das noch zu, weil sich Lokalpatriotismus, den jeder Mensch ausbildet, aus der Überhöhung positiver Erlebnisse speist. Insoweit ist derjenige, der in einer Stadt lebt, in der es einen Ort wie Sachsenhausen gibt, doppelt belastet. An einem solchen Ort gibt es ständig Widerspruch. Und den soll man nicht klein reden. Es ist nicht einfach, sich mit so einem Ort zu identifizieren.

Fühlen Sie sich denn nach 12 Jahren als Oranienburger?

Nein. Das liegt aber auch daran, dass ich eine 70-Stunden-Woche habe und ständig zwischen Berlin und Oranienburg pendele.

Wie ist das Verhältnis zwischen Stadt und Gedenkstätte?

Das hat sich mit den Jahren gewandelt. So wie sich Sachsenhausen nach der Wende von einer Nationalen Mahn- und Gedenkstätte zu dem verwandelte, was es heute ist: ein zeithistorisches Museum, ein Ort des Gedenkens und Lernens. Da hat es einen Prozess des Aufeinanderzugehens gegeben. Und daraus wurde später das Projekt „Die Stadt und das Lager“.

Was ist das für ein Projekt?

Dieses KZ lag ja nicht wie Buchenwald auf einem Berg oder wie Ravensbrück am anderen Seeufer. Hier gingen Stadt und Lager fließend ineinander über. Und viele Menschen wohnten direkt am KZ, manche konnten von ihrem Fenster bis zum Appellplatz schauen. Die haben vieles mitbekommen.

und haben davon erzählt?

Ja, ich bin bis heute denjenigen dankbar, die auf mich zugekommen sind und sagten: Wir wollen endlich erzählen. Das haben dann relativ viele getan, auch öffentlich. Daraus haben wir die Ausstellung „Die Stadt und das Lager“ gemacht, die, glaube ich, einzigartig ist.

Einzigartig?

Ja, in Dachau zum Beispiel gibt es nur eine Informationstafel zur Beziehung zwischen Stadt und KZ. Die ist anderthalb Quadratmeter groß, und der Bürgermeister hat sie heftig angegriffen. Wir dagegen haben eine – wie ich finde – sehr interessante Ausstellung gemacht. Vor allem haben wir dabei völlig neue Ergebnisse erhalten – ohne endgültig zu urteilen, geschweige denn zu verurteilen. Daran hat sich dann eine Gesprächsreihe angeschlossen – auch auf Wunsch der Bürger. Ich will deutlich sagen: Im Verhältnis zu Dachau und den dortigen Spannungen ist hier in den 90ern etwas in Gang gekommen, was so vorher nicht möglich war.

Und was ist daraus geworden?

Nun, viele Initiativen sind leider stecken geblieben. Zum Beispiel kommen wir mit dem Geschichtspark Klinkerwerk nicht weiter. Das Klinkerwerk – ein Außenlager, wo Häftlinge in Zwangsarbeit für Germania Ziegel herstellen mussten –, ist für die Überlebenden ein wichtiger Ort. Es war quasi das Todeslager von Sachsenhausen. Noch heute liegen dort Leichen von Häftlingen im Boden. Die Stadt wollte hier ursprünglich ein Gewerbegebiet entwickeln. Davon hat man Abstand genommen und den Bereich stattdessen unter Denkmalschutz gestellt. Dann wurde ein Konzept für einen Geschichtspark entwickelt. Ende der 90er waren der Bürgermeister und ich uns einig, dass man das Projekt gemeinsam mit der Stadt voranbringen könnte. Nun hat Oranienburg den Zuschlag für die Landesgartenschau 2009 erhalten, und ich muss den Planungen entnehmen, dass dabei weder Geschichtspark noch Gedenkstätte eine Rolle spielen. Niemand hat mit uns gesprochen.

Kann man noch nachbessern?

Nein. Die Landesgartenschau ist so genehmigt. Wir freuen uns natürlich für Oranienburg. Aber es ist schon ein Abweichen vom einst eingeschlagenen Weg der 90er-Jahre. Damals war man sich einig: Wir wollen beide Phasen der Oranienburger Geschichte im Blick behalten. Und jetzt droht, was in Dachau geschehen ist: dass man die guten Seiten gegen die bösen ausspielt. Da kann ich nur sagen: Das ist kein guter Weg.