Schalke verliert Ballast

Drei Tore des Stuttgarters Kevin Kuranyi führen dazu, dass Schalke 04 seine Meisterträume für beerdigt erklärt und nun ohne Druck um einen Platz in der Champions League spielen möchte

AUS STUTTGART OLIVER TRUST

Kleine weiße Wölkchen stiegen empor. Eines nach dem anderen. Rudi Assauer schien in einer fernen Welt versunken, dabei stand er mitten im proppenvollen Presseraum des Gottlieb-Daimler-Stadions. Ein Wirrwarr aus Stimmen und Stimmungen brauste wie starke Winde nach dem 0:3 gegen den VfB Stuttgart um ihn herum. Doch er zog scheinbar ungerührt an seinem Zigarrenstumpen. Vor dem Manager des FC Schalke 04 lag ein Blatt Papier, auf dem die neueste Tabelle abgedruckt war. Trotzig und verächtlich sah der Blick aus, den Assauer dem Ergebnisbogen schenkte. Dann ließ er seinen rechten Zeigefinger gegen die Papierkante krachen, als wolle er in einem letzten verzweifelten Versuch die Abschlusstabelle des 28. Spieltages ins Wanken bringen. Bald jedoch wandte sich Stumpen-Rudi enttäuscht ab, weil sich am Status quo partout nichts ändern ließ. Schalke 04 hat nach der Niederlage drei Punkte Rückstand auf den Ersten Bayern München und spürt gleichzeitig den Verfolger VfB Stuttgart im Nacken. Mit einem letzten Schups stieß Assauer das Blatt von sich, als verabschiede er sich mit einem Schlag von allen Meisterschaftsträumen.

Die gesamte Schalker Fußballfamilie stellte nach diesem Samstag bisher Gültiges in Frage. Im Kollektiv warf man hinderlichen Ballast von den Schultern, um fortan wenigstens noch als Außenseiter ohne Erwartungsdruck das Minimalziel Champions League angehen zu können. Um den Titel müsse man sich „in dieser Verfassung keine Gedanken machen“, meinte Ralf Rangnick, der Trainer. „Wir müssen schauen, dass wir den direkten Platz für die Champions League behalten.“ Wie ein Schlag, der den ganzen Verein in seinen Grundfesten erschütterte, hatten die drei Tore des Stuttgarters Kevin Kuranyi gewirkt. Verzweiflung hatte vor allem die Erkenntnis hervorgerufen, 90 Minuten nicht in der Lage gewesen zu sein, sich zu wehren und zurückzuschlagen. Nach den beiden dicken Chancen, die Gerald Asamoah (20.) und Ailton (28.) ausließen, ergaben sich die Schalker in ihr Schicksal. Fast apathisch hatten sie in Hälfte zwei alle Angriffe der Schwaben ertragen. So nervös habe er seine Mannschaft noch nie erlebt, stellte Rangnick konsterniert fest.

Asamoah beeilte sich derweil zu versichern, die Niederlage habe nichts mit den Erlebnissen aus dem Mai des Jahres 2001 zu tun. Schalke verlor damals am vorletzten Spieltag mit 0:1 in Stuttgart und gab am Ende auf dramatische Weise den ersehnten Titel aus der Hand. Man dürfe sich jetzt nicht in die Ausrede flüchten, von bösen Erinnerungen bezwungen worden zu sein. Einflüsse aus der Vergangenheit aber konnten die frustrierten Verlierer nur mühsam ausschließen. Wobei nicht endgültig geklärt ist, ob die Magen-Darm-Verstimmung, die Marcelo Bordon in der Nacht vor dem Spiel befiel, mit dessen Rückkehr an seinen alten Arbeitsplatz zusammen hing. „Der hing die Nacht am Tropf, da läufst du am Tag danach keine 400 Meter mehr“, sagte Assauer und berichtete von Schweißausbrüchen und einer schlaflosen Nacht. In der Tat flutschte Bordon der Ball nach Christian Tifferts Flanke in der 16. Minute durch die Beine und er musste zuschauen, wie Kevin Kuranyi nach fast 600 Minuten ohne Torerfolg wieder jubelte.

Vielleicht, orakelte Stuttgarts Trainer Matthias Sammer, sei Bordon von Sentimentalität ergriffen worden. „Das passiert manchmal, wenn man in die alte Heimat zurückkommt. Das ging mir auch immer so, wenn ich mal nach Dresden zurückkam“, sagte Sammer. Aber nicht nur Bordon, dem Rangnick unterstellte, die gesamte Mannschaft mit seiner Nervosität angesteckt zu haben, erreichte kaum gewohnte Leistungsstandards. Der meist wirkungslose Spielmacher Lincoln, der sich in Zweikämpfen mit Zvonimir Soldo und Silvio Meißner aufrieb, ließ seiner Frustration freien Lauf und musste nach wiederholtem Foulspiel mit Gelb-Rot vom Platz (65.).

Ungewohnte Gefühle hatten auch Schalkes Gegner ergriffen. Auf dem neu verlegten Rasen beglückte Stuttgart seine Anhänger zum ersten Mal seit Wochen nicht mehr mit schmucklosem Ergebnisfußball, sondern garnierte den Sieg mit sehenswerten Kombinationen, die meist vom überragenden Alexander Hleb ausgingen. Davon profitierte vor allem Torjäger Kuranyi, der aber noch aus einem anderen Grund besonders motiviert schien. Nach dem 2:0 (47.) lief er zur Seitenlinie und schaukelte beide Arme vor seiner Brust, um später zu berichten, er werde im September Vater. Von Vorfreude getragen traf Kuranyi (63.) ein drittes Mal. Nur ein Stuttgarter blieb sich am freudvollen Nachmittag selbst treu. „Wir sind fast alle Schwaben und sehen deshalb keinen Grund, großspurig zu sein“, sagte Sammer. Von Meisterschaftschancen werde er heute nicht sprechen. „Ich warte erst einmal ab, wie wir nächste Woche in Rostock spielen. Darauf bin ich richtig gespannt.“