piwik no script img

Schwabe 21 plus

Ein wichtiges und viel bestauntes Symbol des S-21-Protests steht im Museum, im Haus der Geschichte: der Bauzaun. Hermann Bausinger hat sich überlegt, ob er dadurch museal entschärft wird oder ob er nicht doch im Bewusstsein bleibt: als Wink mit dem Zaunpfahl

von Hermann Bausinger

Der Stuttgarter Bauzaun repräsentiert sicher für viele ein Stück wehmütig gefärbter Nostalgie; er verkörpert sehr aktuelle Erinnerungen; und er ist nicht nur Erinnerung, sondern auch Provokation, Ausdruck ungelöster Probleme. Der Zaun steht im Museum ja nicht als Ikone einer abgeschlossenen Schlacht, sondern zur Dokumentation einer in der Form und im Ausmaß ungewöhnlichen Auseinandersetzung, an der viele von denen beteiligt waren, die sich jetzt die freie Rekonstruktion des Zauns ansehen.

Meine Aufgabe ist aber nicht die Analyse seiner vielfältigen Botschaften. Mein Wink mit dem Zaunpfahl zielt in eine andere Richtung. Mein Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung des Stuttgarter Konflikts im weiteren Umkreis, konkret: der Sachverhalt, dass die Streitigkeiten um S 21 und K 21 in der ganzen Republik und noch darüber hinaus großes Staunen hervorriefen. Manche retteten sich in Superlative; Xavier Naidoo zum Beispiel, der Frontmann der Söhne Mannheims, ernannte Stuttgart zur Hauptstadt der neuen deutschen Revolution. Andere standen kopfschüttelnd vor den Bildern, die im Fernsehen übertragen und von der Presse ausgemalt wurden – so etwas ausgerechnet in Stuttgart, ausgerechnet bei den Schwaben. Der Hintergrund: Das gängige Schwabenbild steht konträr zu der unruhig-aufsässigen Aktivierung, die viele Monate fast unvermindert durchgehalten wurde. Die Schwaben, ein biederes Völkchen, fleißig ja, begabt, strebsam – aber widerspenstig und rebellisch?

Solche kollektiven Typisierungen sind immer unzulänglich. Der Schwabe ist – egal was folgt: ordentlich, sparsam, arbeitsam, pünktlich, bigott, spießig, neidisch, es ist immer schief, weil schon die vorangestellten Wörter schief sind. Der Schwabe ist – jedes Wort ist falsch. „Der“: mit diesem Singular wird die Vielfalt heruntergerechnet auf einen Repräsentanten; dabei wird niemand bestreiten, dass zwischen Hartz-IV-Empfängern und Bankdirektoren ein gewisser Unterschied besteht.

Mit „Schwabe“ ist es nicht besser. Nicht nur, dass die Schwäbin ungenannt bleibt; es fragt sich auch, wer eigentlich zu den Schwaben gerechnet werden kann. Sondierungen in der Frühgeschichte führen in die Irre, denn zu den Sueben – der Name war gleichbedeutend mit Alemannen – gehörten auch Menschen in Teilen der späteren Schweiz, im südlichen Baden und im bayrischen Schwaben, wo sich der Name bis heute auch als amtliche Bezeichnung gehalten hat.

Seltsam, wie leicht Stuttgarter sich als Schwaben fühlen

Neuerdings wird die Bezeichnung Schwaben zwar überwiegend auf die Bewohner Württembergs bezogen; aber der nördliche Teil ist fränkisch, und die Oberschwaben akzeptieren trotz diesem Namen nur ungern, dass sie eine Untergruppe der Schwaben sein sollen. Bleibt das „ist“ – und auch das ist schief, weil es die Einschätzung fixiert und die ständigen geschichtlichen Veränderungen wie die aktuellen Einflüsse leugnet.

In Baden-Württemberg ist rund ein Viertel der Bevölkerung ausländischer Herkunft, und wenn man den Begriff Migrationshintergrund wörtlich nimmt, gehören ja auch die Zuwanderer aus Banat und Batschka, aus Schlesien und Ostpreußen, aus den neuen Ländern und sogar aus dem Norden Deutschlands dazu. Berücksichtigt man alle Zugewanderten, kommt man ungefähr bei der Hälfte der Bevölkerung an, und in Stuttgart ist es mehr als die Hälfte. Unter diesem Aspekt ist es seltsam, dass sich die Stuttgarter so leicht als Schwaben fühlen und bezeichnen – im Gegensatz etwa zu den Münchnern, die sich zwar auch mit Bayern identifizieren, aber zunächst einmal Münchner sind. Dagegen sind die Stuttgarter bereitwillig Schwaben, was aber nichts ändert an der faktischen Unterschiedlichkeit und Buntheit der Bevölkerung, die eine kollektive Charakteristik vollends problematisch macht.

Die Stuttgarter Ausstellung des Bauzauns hat den Titel „Dagegen leben“; dies trägt der Tatsache Rechnung, dass die Botschaften am Zaun ganz überwiegend Proteste gegen den geplanten neuen Bahnhof sind, und der Titel visiert auch die Unbedingtheit an, mit der sich viele engagierten. Aber hinter dem Dagegen zeigen sich weitere respektable Ziele: mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung, mehr ökonomischer und politischer Einfluss. Zum strategischen Politmanagement gehört es oft, Gegenpositionen auf die bloße Verneinung herunterzuargumentieren – deshalb ist der Hinweis angebracht, dass energisches Dagegen ein emphatisches Dafür nicht ausschließt.

Fairerweise muss das auch der Bewegung zugebilligt werden, die für den Bauzaun und für die der Bauzaun steht. Es gab vereinzelt anarchische Formen des Protests, aber keine anarchischen Ziele, sondern es sind überwiegend konservative Werte, die in den Protest hineingetragen wurden. Im Zug der Auseinandersetzung gab es Versuche, den Protest auf Rabaukenniveau herunterzudividieren; aber abgesehen von einigen Wortrabauken (die sich mitunter in der Presse und auch in Parlamenten finden) hat man davon bald Abstand genommen.

Der Protest hatte, das war deutlich, eine neue Qualität, erkennbar auch an Äußerlichkeiten. Alte Leute unter den Protestierern wunderten sich, dass so viel alte Leute dabei waren, Frauen wunderten sich, dass so viele Frauen mitmachten, ruhige Bürger wunderten sich, dass so viele ruhige Bürger teilnahmen. Halbhöhenlage wurde zu einem Leitwort – es signalisierte einerseits, dass der Protest mit einer gediegenen Existenzform vereinbar war, andererseits sollten mit dem Wort die Wohlhabenden entlarvt werden, denen man unterstellte, dass sie nur um ihre Bequemlichkeiten fürchteten.

Es handelte sich tatsächlich – und das war neu! – um eine Art Patchwork-Protest, der nicht primär von festen und womöglich ideologisch festgelegten Gruppen getragen wurde, sondern von Ad-hoc-Gruppierungen, projektbezogenen Protestierern aus vielfältigen Lagern und gar keinen Lagern. Man empfand es offensichtlich quer durch die Bevölkerung, dass das Wählerschaf zu brav war und dass für den schwäbischen Besen nichts unumkehrbar ist, um wenigstens zwei der Bauzaunsprüche aufzugreifen.

Der Bauzaun vermittelt etwas von der Struktur des Protests; er ist bunt und vielfältig. Bei freundlicher Betrachtung wird oft das Stichwort kreativ in Stellung gebracht. Dagegen lässt sich anführen, dass zwar gewichtige Poetenworte (von Hölderlin bis Bob Marley) zitiert werden, dass aber die poetische Eigenproduktion oft dürftig bleibt, dass die Ironie leicht ins Stolpern gerät und dass ein Teil der Kritik recht plump daherkommt. Aber es gibt auch den anderen Teil: witzige Attacken und treffende Kritik. Genau diese weite Skala charakterisiert die Protestbewegung. Sie umfasst die ganze soziale Breite der Bevölkerung, und der Bauzaun präsentiert ganz überwiegend individuelle Äußerungen. Da ist wenig Normierung – anders als bei einer Resolution.

Natürlich kann man fragen, ob der Bauzaun als Ausstellungsobjekt nicht entschärft ist, ob die museale Zubereitung nicht die wilde Kommunikation auf fragwürdige Weise zähmt. Aber man muss sich die Alternativen vor Augen halten: Müll oder Museum. In der musealen Präsentation gewinnt der Zaun symbolische Qualität, und es gehört zu den positiven Effekten, dass er am herkömmlichen Schwabenbild kratzt. Das ist ein Wink für die abstoßend hemmungslosen Lobredner des Schwäbischen, die an der Heckscheibe ihrer Autos ohne ironische Intention verkünden: Gottes schönste Gabe ist der Schwabe, und die bei ihrem Schwabenlob schwelgen in Gemütlichkeitsmetaphern. Der Zaun ist ungemütlich.

Der Zaun und der darin verkörperte Protest sind aber auch von Bedeutung für das externe Schwabenbild; das kommt in zahlreichen Bemerkungen von Korrespondenten und Kommentatoren aus anderen deutschen Regionen zum Ausdruck, aber auch in den Reaktionen einfacher Leute aus den Gegenden jenseits des Mains. Sie haben sich zuerst gewundert, dass die Vorgänge nicht mit ihrem Schwabenbild harmonierten, und sie haben dann begonnen, dieses Bild ein wenig zu übermalen. Es dürfte nicht das Schlechteste für das bisher von teuren Agenturen servierte Image des Landes sein, wenn ein Zug der Widerspenstigkeit mit ins Bild kommt. Mit ins Bild – denn anderes wie der Gedanke an Sparsamkeits- und Sauberkeitsorgien bleibt wohl erhalten.

Am Ende meiner Schlichtung kann so eine kleine Korrektur des herkömmlichen Bildes präsentiert werden: der Schwabe 21 plus. Allerdings ist mir klar, dass man das nicht dekretieren kann. Die Einschätzung plus oder minus ist eine Frage der Perspektive. Und zwischen plus und minus entscheidet die reale Entwicklung – das gilt für das Schwabenbild, und es gilt auch für den Bahnhof.

Hermann Bausinger war lange Jahre Leiter des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaften in Tübingen. Er hat sich qua Amt und als Buchautor (u.a. „Berühmte und Obskure. Schwäbisch-alemannische Profile“ und „Der herbe Charme des Landes“, beide Klöpfer & Meyer) mit dem Wesen der Schwaben auseinandergesetzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen