Damit die Einfalt ihre Jungfräulichkeit verliert

TABU Die Nacktfotos von Aliaa Magda Elmahdy im Internet sind ein Plädoyer für Laizität und Respekt. Eine Streitschrift

■ Der Tabubruch: Die Kunststudentin Aliaa Magda Elmahdy bloggte im Oktober 2011 ein Aktfoto von sich. Wüste Beschimpfungen, Todesdrohungen und Klagen wegen Unzucht und Beleidigung des Islam folgten.

■ Neuer Aufruf: Ende Dezember forderte die Bloggerin Frauen dazu auf, ihr je zwei Fotos zu schicken – mit und ohne traditionelles Kopftuch. Sie sollten kurz erklären, warum sie das Kopftuch trugen und weshalb sie sich dafür entschieden, es wieder abzulegen. Die Bilder will Elmahdy in ihrem Blog veröffentlichen.

■ Solidarität: Körperbilder und Akte anderer Frauen wurden Elmahdy zur Unterstützung zugesandt. Sie sind auf ihrem Blog zu sehen. Im November solidarisierten sich 40 israelische Frauen nackt in der Öffentlichkeit. www.arebelsdiary.blogspot.com

VON HAWA DJABALI

Die arabische Welt: Was schmerzt in den Augen der Armseligen, deren Länder zu jämmerlichen Vorstädten von New York werden? Was schmerzt in den Augen derer, die in diesen Ländern, die einst zu den Großen in der Forschung und in den Ideen zählten, die physische und moralische Verstümmlung, die Korruption, die Vergewaltigung und die Prostitution von Mädchen und Knaben billigen? Es ist eine junge Frau im geliebten Ägypten, ein Mädchen, das frühere Traditionen Arabiens weiterführt: die junge Aliaa Magda Elmahdy. Sie ist gebildet, kämpferisch und voll des Mutes, der so manchem unserer Männer fehlt!

Aliaa Magda Elmahdy in ihrer Nacktheit! Warum nackt? Sie führt uns diesen Frauenkörper vor Augen, der ein Symbol der Unterdrückung wurde, weil das weibliche Geschlecht als „Privateigentum“ gilt, das die Männer sich von Generation zu Generation weiterreichen oder an dem sie sich vergreifen, um ihre Feinde zu erschüttern. Sie kämpft für die Laizität und um Respekt als Bürgerin. Dieser Kampf beginnt mit der Befreiung des weiblichen Körpers und seiner Aneignung durch die Frauen selber. Aliaa steht in den Fußstapfen bekannter Vorgängerinnen, wie der Ärztin Nawal Saadawi. Sie kämpfte mit ihren Romanen und Artikeln auch gegen die Genitalverstümmelung, diesen aufgezwungenen Stempel bleierner Macht.

Warum nackt? Hat man denn schon vergessen, dass zu Beginn der Geschichtsschreibung in Oberägypten die Nacktheit ein Zeichen des Respekts und der Reinheit war? Und trägt nicht jede Frau in sich alle Episoden der Geschichte? Diese Frau tritt darum nackt, rein und respektvoll vor uns, um uns zu sagen, dass gekämpft werden muss.

Natürlich liegen da noch die Ansichtskarten mit den Huren aus der Kolonialzeit. Na und? Soll diese Kleine beschimpft werden, weil ganze Frachter von westlichen Touristen sich wie die Säue auf den Kindern Ägyptens wälzen? Jene, die geil aufs Bild schauen und darauf spucken, sollten den Blick betrachten. Niemals hat eine Prostituierte einen solchen Blick! Frauen ohne Blick, Männer, die Söhne der Frauen, ohne Blick: Militärs und Religionsvertreter sind sich einig, dass die menschliche Herde weder einen Blick noch einen Körper haben darf.

Auch haben diese Anwärter auf einen Platz im Paradies ein kurzes Gedächtnis: Wer hat die heute praktizierte Poesie erfunden? Die arabischen Frauen. Wer hielt literarische Treffen ab, beginnend mit der Familie des Propheten? Die arabischen Frauen. Wer entblößte die Brust vor dem Feind, um ihn zu besiegen? Die arabischen Frauen (auch in der Armee des Propheten). Wer fabrizierte ursprünglich die Waffen? Wer hat euch auf die Welt gebracht, dass ihr meint, stärker zu sein?

Wenn diese Männer, die da einen Skandal wittern, eine Ehre hätten, wäre das bekannt: Palästina wären nicht verkauft und wieder verkauft und verraten worden, der American Way of Life würde nicht unsere Kinder verblöden, die arabischen Fernsehsender wären nicht voll von diesem amerikanischen Schrott, und vor allem wäre unser revolutionärer Geist nicht von Betrügern aller Art beschlagnahmt worden. Wir arabischen Frauen wären bereit für die arabische Einheit.

Wem verdanken wir den Schleier?

Und das Schlimmste ist diese heilige, esoterische Union zwischen Diktaturen und religiösen Strömungen, um uns an Händen und Füßen gefesselt der westlichen Lüge auszuliefern. Denn die arabischen Frauen haben bis hin zur westlichen Invasion ihren Körper und ihre Sexualität – den jüdischen, christlichen und muslimischen Religionen zum Trotz – stets respektiert. Und trotz der Verklärung der Vererbung und trotz dieses männlichen Minderwertigkeitsgefühls, das stets der Rechtfertigung, der Durchsetzung und der Rache an der weiblichen Gattung bedarf, waren die arabischen Frauen psychologisch immer stärker. So war der Tanz nicht nur ein Vergnügen der Männer, er war auch ein Gesellschaftsspiel und eine Tradition der Bauern. Sex gehörte zu den Gesprächsthemen der Frauen und ihrer Poesie.

Wem aber verdanken wir die Verhüllung des Körpers, die geschlossene Kleidung? Den Engländern, den Franzosen und ihrem ganzen christlichen Arsenal aus dem Abendland. Und wem verdankten wir weit früher schon den Schleier? In Ägypten den Griechen der Antike, im Maghreb den Römern! Die Perser hatten ihn von den Indern. Lange bevor Europa seine ersten Verse stammelte, wetteiferten zur Zeit der arabischen Eroberung die Andalusierinnen in ihrer Dichtung über Liebe, Eifersucht und die Schönheit ihrer Männer. Was jene freiwillige Abhängigkeit angeht, die der Westen als „Freiheit“ bezeichnet, so haben die arabischen Frauen seit jeher geraucht (unter sich und die Zigarette mitten zwischen den Lippen) und oft getrunken (wie bei Trancezuständen in Algerien).

Man höre also auf, uns etwas vorzumachen und so zu tun, als wären wir mit einem heiligen Schleier auf die Welt gekommen. Es ist das Elend, die Armut, das Ungleichgewicht in der Welt, das Joch der Kolonialisierung, die Ausbeutung unserer Erde und deren Energie. All dies hat unsere Bevölkerungen einer sträflichen Ignoranz ausgeliefert. Die engstirnige Religion, der Kreationismus, die Bewunderung der Konsumgesellschaft, der Triumph des Stärkeren, der Kult des Profits, das alles bildet ein Ganzes.

Da bleibt einigen von uns nicht viel anderes übrig, um sich Respekt zu verschaffen, als noch lauter zu heulen als die Schakale, indem sie sich und anderen gegenüber mit einer dummen und grausamen frömmlerischen Unnachgiebigkeit aufführen. Diese Frauen schreien nach Macht, weil es ihnen an Liebe, Lust und Freude fehlt. Und in der heutigen Gesellschaft hat man ihnen auch noch ihre psychologische Kraft genommen: Was sollen sie da anderes tun, als sich dem Gesetz der Männer unterzuordnen, um einen Platz zu finden?

In ihrer Tradition aber werden sich die arabischen Frauen weiterhin auflehnen. Und wie es diese altehrwürdige Tradition will, sind sie dabei provozierend und mutig bis zum Äußersten! Diese kleine Aliaa Magda ist ein Beispiel dafür. Anstatt ihre Geste zu verurteilen, täten die Leute besser daran, darüber nachzudenken. Andernfalls könnte die Generation der Sechzigjährigen und der Älteren der entschlossenen Aktion dieser Jungen Nachdruck verleihen. Stellt euch vor: Wenn in allen Ländern der arabischen Welt sich die Großmütter wie andere einst zur Zeit der Unabhängigkeit entblößen und euch auf ihren Blogs den nackten Hintern zeigen würden!

Lasst uns unseren Kampf führen

Nehmt euch bloß in Acht, wir sind durchaus fähig dazu! Ihr Brüder des Verbotenen und der Ängstlichkeit, eure prächtige Überheblichkeit, die ihr zwischen unseren Schenkeln verstecken wollt, würde vor den Augen der ganzen Welt einen schönen Dämpfer erhalten!

Oh ihr Männersöhne, seit wann kann das glückselige Werk eures Gottes euch denn beleidigen? Ihr seid die Gotteslästerer! In der Epoche der Entkolonialisierung sagte ein Imam in Algerien, wenn die Muslime wirklich Muslime wären, könnte ein nacktes 16-jähriges Mädchen mit einem Schatzkästchen auf dem Kopf unbehelligt und ohne Furcht das Land durchqueren. Sind diese Geilen also, die sich da hervortun, wirklich Muslime?

Und ihr, Verteidiger des Fortschritts und der Laizität im Westen, die ihr stets bereit seid, uns noch und noch Lehren zu erteilen, seit wann kann solche Schönheit euch stören? Oh, ihr allesamt! So viele erstarrte Leichen, so viel Horror lassen euch kalt, so viele Folterqualen lassen euch unberührt! Der heilig-schöne Körper aber, die warme Hülle des Tunnels, der ins Leben führt, bringt euch zum Schreien?

Und gewisse Europäer stimmen euch zu, weil das nicht schicklich sei und Öl ins Feuer gieße, weil das provoziere. An euch, liebe Freunde im Westen, die ihr euch derart Sorgen um uns macht, richte ich eine höfliche und freundschaftliche Bitte: Lasst uns unseren Kampf führen. Aus dem geistigen Widerstand wird die Zukunft des Menschen geboren.

Wir schockieren das erstaunte, verblüffte, hinterwäldlerische, ignorante misshandelte Volk? Schockieren wir es nur! Was wir von euch erwarten, sind nicht Kommentare und Werturteile, sondern eine Mobilisierung zum Kampf gegen die Ursachen dieser Situation und für die Verteidigung der universellen humanistischen Grundwerte gegen den Zynismus der Profitgier in jenen Gesellschaften, die in ihrer Heuchelei so tun, als bedeute ihnen unser Schicksal etwas.

Seit wann ist Respekt geboten für die Unanständigkeit der Macht und derjenigen, die sich ihr unterordnen? Tut nicht so, als wüsstet ihr nicht, wer die extremistischen Bewegungen aller Art schafft und ihre Fäden zieht. Erkennen wir nicht, wenn wir uns wirklich hinterfragen, dass es die reiche Welt ist, die nicht will, dass die Einfalt ihre Jungfräulichkeit verliert?

Die Autorin (62) ist algerische Journalistin und Schriftstellerin. Sie lebt in Brüssel und leitet dort ein arabisches Kulturzentrum.

Den Artikel übersetzten Rudolf Balmer und Noura Mahdhaoui.■ Alle Bilder veröffentlicht auf www.arebelsdiary.blogspot.com