Die Vertreibung begann 1938

betr.: „Es gab doch keine Tabus“, Interview mit Helga Hirsch und Norbert Frei, taz vom 8. 4. 05

Ich war fünf Jahre alt, als über unser Dorf der Partisanenaufstand hereinbrach. Mit sieben fand ich mich nach Flucht, Vertreibung, Internierung und Lager irgendwo in Deutschland am Verhungern. Auf der privaten Ebene habe ich mich deshalb immer als Opfer gesehen, nein, nicht der Slowaken, der Tschechen oder der Russen, sondern als Opfer Hitlers, so wie es Erich Kästner schon am 8. Mai 1945 an die Adresse der Sieger notierte: „Sie nennen uns das ‚andere‘ Deutschland. Es soll ein Lob sein. Doch Sie loben uns nur, damit Sie uns desto besser tadeln können. Beliebt es Ihnen, vergessen zu haben, dass dieses andere Deutschland das von Hitler zuerst und am längsten besetzte und gequälte Land gewesen ist?“ Auf der anderen Seite „verdanke“ ich es Hitler und der Vertreibung, dass ich ein Leben in Wohlstand führen konnte mit Lebenschancen, wie sie all jenen nie offen standen, die in der alten Heimat geblieben waren. Eine schizophrene Situation.

Auf der persönlichen Ebene habe ich meine Lebensprobleme nie in Zusammenhang mit Krieg, Flucht und Vertreibung gebracht. Es galt immer, Zähne zusammenbeißen, Augen zu und durch – bis zum Bosnienkrieg. Da fand ich mich vor dem Fernseher, und die Tränen schossen mir aus den Augen, unaufhaltsam, stundenlang: Das war ich vor 50 Jahren, dieses Kind, umringt von Männern mit Waffen; das war ich, dieses Kind im Lager, mit großen, verständnislosen Augen, knöcheltief im Morast und hungrig. Dieses Kind ist nicht gealtert mit mir. Es hatte sich mit seinen fünf Jahren eingeschlossen vor der Welt und jetzt zum ersten Mal die Türe einen Spalt weit geöffnet.

Eine deutsche Opferdiskussion wäre auf all diesen Ebenen zu führen, vor allem auch über diese Kinder, die unter uns leben in den Herzen und Köpfen der Kriegsgeborenen. Wer sie nicht mit bedenkt, kann die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht verstehen, nicht ihr unstillbares Bedürfnis nach Sicherheit.

WILLIBALD PAPESCH, Gerstetten

Die Vertreibung von Sudetendeutschen aus ihrer Heimat begann nicht 1945/46, sondern 1938. Meine Tante Berta zum Beispiel musste damals mit ihrem Mann, der Parteifunktionär der Sozialdemokraten war, vor den Nazis nach Kanada fliehen. Die Familie meines Vaters durfte in Anerkennung ihrer antifaschistischen Haltung einen Güterwaggon mit Möbeln usw. bei ihrer Ausreise mitnehmen.

Später kommentierte mein Vater Berichte im Fernsehen über die politische und wirtschaftliche Lage in der ČSSR meist mit den Worten: „Gott sei Dank, dass sie uns rausgeschmissen haben.“ Als ich in den 1980er-Jahren mit meinen Eltern deren Geburtsorte in Mähren besuchte, verspürten diese keinen Wunsch, in die alte Heimat zurückzukehren. Die Reden der Funktionäre der Landsmannschaften, dass auch die Kinder der Vertriebenen ein Recht auf die Heimat der Eltern hätten, empfand ich selbst eher als Drohung.

ULRICH SEDLACZEK, München

Das Schicksal der vertriebenen Deutschen – ein verdrängtes Thema in der BRD? Ich weiß ja nicht, in welchem Land Frau Hirsch gelebt hat, aber ein Tabuthema war dies keineswegs. Vielmehr war die politische Kultur der Nachkriegszeit deutlich geprägt von der Vertriebenenproblematik. Dafür sorgten allein schon die politischen Vertreter der Vertriebenverbände, die alljährlich auf ihren Sitzungen ihren revanchistischen Gedanken freien Lauf ließen. Auch saßen Vertreter des „Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ in den 1950er- und 1960er-Jahren im Bundestag und in mehreren Landtagen, um ihre politischen Forderungen durchzusetzen und das Thema auf der politischen Agenda zu halten. Selbst in den 1980er-Jahren wurde regelmäßig in den Medien über die Forderungen dieser Landsmannschaften und Verbände berichtet, und in der letzten Zeit sorgten die geschichtspolitischen Pläne von Erika Steinbach für nicht wenig Wirbel. Wer wollte, wurde also immer mit dieser Thematik konfrontiert.

Von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung brauche ich gar nicht erst zu reden, denn spätestens in den 1980er-Jahren lagen bereits grundlegende Werke zu den Vertreibungen vor, u. a. von Wolfgang Benz. Von einem Tabuthema kann also überhaupt keine Rede sein. Wer sich dieser Wortwahl bedient, macht nur deutlich, dass er die Vertreibung in seinem Sinne instrumentalisieren will, um von den Verbrechen und Gräueltaten abzulenken, die die Deutschen und ihre Verbündeten vorher begangen haben. Eine gegenseitige Aufrechnung von Schuld darf nicht sein, aber der historischen Wahrheit willen müssen Ursache und Folgen auseinander gehalten werden. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten war eben Resultat des vom Deutschen Reich entfesselten Zweiten Weltkrieges. Wer dies nicht anerkennen kann, muss sich den Vorwurf des Revisionismus und der Geschichtsklitterung vorhalten lassen.

ALEXANDER NEUMANN, Freiburg