Muss die Bahnprivatisierung jetzt endgültig vom Tisch?
JA

ENDSTATION BERLIN Die S-Bahn in Berlin stürzte ins Chaos. Weil ihr Mutterunternehmen Deutsche Bahn sie für den Börsengang ausquetschte, schimpfen Fahrgäste und Politiker. Bürgermeister Klaus Wowereit verlangt schon, den Börsengang der Bahn endgültig abzusagen

Manfred Schell, 66, ist ehemaliger Bundesvorsitzender der Lokführer-Gewerkschaft GdL

Es ist aus Sicht der Bundesbürger wichtig, dass der Eigentümer, vertreten durch den Deutschen Bundestag, eine eindeutige Entscheidung gegen einen Börsengang der DB trifft. Es darf nicht weiter gegen die Interessen der Bürger das Mehdorn’sche Prinzip verfolgt werden „Wir fahren nur noch das, was sich rechnet“. Dies mit der Folge, dass Städte mit über 300.000 Einwohnern vom ICE-Verkehr weiter abgekoppelt werden. Und entgegen der Zielsetzung bei der Privatisierung 1994 kam es nicht zu einer Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene, sondern die Bahn entzieht mittels ihrer Logistiktochter weiteren Güterverkehr. Ein unerträglicher Zustand war, in völliger Übereinstimmung zwischen dem DB-Vorstand und dem Aufsichtsrat, dass selbst bei einem Verschleudern von Volksvermögen beim letztjährig geplanten Börsengang noch Millionen-Boni an den Vorstand beschlossen waren. Der Eigentümer hat die Pflicht, seinem Unternehmensvorstand zu sagen, welche Bahn er in Deutschland haben will. Unausweichlich würde bei einer erneuten Zielsetzung Börsengang wiederum alles darangesetzt, egal ob beim rollenden Material, in der Infrastruktur und erst recht bei den Beschäftigten, erneut die Sparschrauben anzuziehen. Dabei steht völlig außer Frage, dass dadurch auch der gesamte Bereich der Verkehrssicherheit dem fiskalpolitischen Ziel geopfert würde.

Ullrich F. J. Mies, 58, Unternehmer, lebt in Vaals (NL). Er hat seinen Beitrag auf taz.de gestellt.

Der eigentliche Skandal ist, dass die Bahn-Privatisierung jemals „auf den Tisch“ kam. Dies hängt mit der „neoliberalen Transformation“ von Wirtschaft und Gesellschaft der letzten gut 25 Jahre zusammen. Die Verantwortlichen haben ja nicht nur die Bahn vor die Wand gefahren, der desolate Zustand des Landes ist das Werk der herrschenden „Eliten“. Die Verantwortlichen sind Täter, die nicht nur bei der Bahn gigantische Schäden produziert haben und die Reisenden seit Jahren mit den Folgen terrorisieren: Fahren auf Verschleiß heißt die Devise. Diese (in der Konsequenz verbrecherische) Politik verfolgt zwei Ziele: 1. Kosten drücken, 2. den „Endschrott“ billig an die Börse bringen. Wer die Dinge so sieht, wie sie sich de facto darstellen, kommt schnell zu dem Ergebnis, dass das gesamte politische und wirtschaftliche System von den Füßen auf den Kopf gestellt wurde, und dies in voller Absicht!!!

Jeremy Corbyn, 60, sitzt für die britische Labour Party seit 1983 im Londoner Unterhaus

Die seit 1947 staatliche British Rail hat von den 60er-Jahren bis zu ihrer Schließung in den 90er-Jahren in Elektrifizierung und Hochgeschwindigkeitszüge investiert. Dann wurde sie privatisiert, das Netz ging an Railtrack, der Verkehr an eine ganze Reihe privater Unternehmen. Railtrack machte mit Landverkäufen enorme Profite, die Bahnunternehmen auch, aber Subventionen für neue Schienenabschnitte und Unterstützung der Dienstleister zeigten, dass das Argument, die Bahn käme den Steuerzahler nun billiger, völliger Unsinn war. Im Gegenteil stiegen die öffentlichen Ausgaben für die Bahn in den 1990er-Jahren, und sie sind heute viel höher als zu Zeiten der staatlichen British Rail. Der Unterschied: Jetzt machen einige damit große Profite. Privatisierung kostet mehr und führt zum Auseinanderfallen der Dienstleistungen und komplizierten und teureren Tarifsystemen. In der Folge hat die Regierung große Schwierigkeiten, ihre umwelt- und sozialpolitischen Ziele umzusetzen. Heute kehrt die britische Eisenbahn langsam in öffentliche Kontrolle zurück. Privatisierung war eine teure Erfahrung für die Öffentlichkeit – und eine sehr profitable für ein paar Bodenspekulanten und Bahnunternehmen.

NEIN

Rainer Brüderle, 64, ist seit 1998 stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag

Auf dem deutschen Schienennetz fahren schon jetzt Privatbahnen, die in puncto Sicherheit und Qualität besser sind als die staatseigene Deutsche Bahn. Das Problem ist nicht die Privatisierung, sondern die Monopolstellung der Bahn wie bei der S-Bahn in Berlin. Ein Monopolist kann Preise diktieren und an Qualität sparen. Schuld daran ist der rot-rote Senat in Berlin. Er hätte die S-Bahn wenigstens teilweise ausschreiben müssen. Schon ein wenig Wettbewerb hätte zu strengeren Qualitätsvereinbarungen und wirksamen Sanktionen geführt. Verkehr auf der Schiene und Logistik sehen wir nicht als staatliche Aufgabe, das machen Private weltweit erfolgreich. Anders das Schienennetz und Infrastruktur: Das sind staatsnahe Aufgaben, für die der Bund verantwortlich bleibt.

Hans-Olaf Henkel, 69, ist ehemaliger Vorsitzender des Bundesverbands der Deutschen Industrie

Es grenzt an Volksverdummung, wenn unsere staatsgläubigen Ideologen die derzeitigen Probleme in Berlin nun den Privatisierungsplänen der Bahn in die Schuhe schieben wollen. Im Gegenteil: Man kann am allgemeinen Zustand der Berliner S-Bahn, vieler Streckenführungen und der meisten Bahnhöfe leicht erkennen, dass die Privatisierung der Bahn überfällig ist. Der Bund fällt in Zukunft als Kapitalgeber aus. Nur über die Privatisierung kommt die Bahn an das Kapital. Vergessen wir nicht, die Bahn steht heute in Wettbewerb mit der Lufthansa und dem Angebot des Individualverkehrs zum Beispiel von Volkswagen. Auch diese waren mal Staatsbetriebe. Ohne Privatisierung wäre die Lufthansa heute noch auf Interflug-Niveau, und VW würde immer noch den Käfer bauen.

Ragnar Nordström, 60, ist Chef der Veolia Verkehr, die die Privatbahn Interconnex betreibt

Es steht außer Frage, dass der Staat auch künftig Leistungen ausschreiben wird und dabei Menge und Qualität der Züge vorgibt. Wenn es jedoch darum geht, ob die ursprünglich geplanten Schritte der Bahnreform fortgesetzt werden sollen, dann gilt: Um Himmels willen, ja! Jeder, der will, dass wir Verkehr von der Straße auf die Schiene holen, dass wir einen möglichst attraktiven Bahnverkehr mit hochwertigen Arbeitsplätzen sicherstellen und dass wir mit den begrenzten öffentlichen Zuschüssen so viele Züge wie möglich fahren, kann sich nur dafür aussprechen. Die Bahnreform ist ein Erfolg – viele Bahnlinien wären ohne sie heute stillgelegt. Wir können noch mehr erreichen. Von eventuellen Fehlern einzelner Marktteilnehmer dürfen wir uns dabei nicht beirren lassen.

Justus Haucap, 40, ist Professor für Wirtschaftspolitik und Vorsitzender der Monopolkommission

Im Schienenverkehr verhindert der integrierte Staatsmonopolist Deutsche Bahn mehr Wettbewerb. Um Wettbewerb zu ermöglichen, sollte eine neutrale Gesellschaft die Bahninfrastruktur (Schienen, Bahnhöfe) betreiben, die nicht ihre eigenen Konzerntöchter bevorzugt und Wettbewerber diskriminiert. Für die Infrastruktur ist grundgesetzlich geregelt, dass sie mehrheitlich in Bundeseigentum bleibt. Also können ohnehin nur Transportunternehmen wirklich privatisiert werden. Ganz klar wird dies bei DB Schenker, die in 130 Ländern tätig ist. Solche Leistungen sind keine Staatsaufgabe – also privatisieren. Der Berliner Senat hat den lukrativen S-Bahn-Auftrag immer konkurrenzlos an die DB vergeben – die Folgen zeigen sich jetzt: Monopolisten sind träge, teuer und unfreundlich.