PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Die Hinrichtung meines Vaters

Kürzlich suchte ich zusammen mit meinem Vater nach seiner Geschichte. Aber wir fanden nur einen Tümpel

An die letzten Kriegstage erinnere ich mich nur verschwommen. Ich war noch nicht auf der Welt, aber wie ich als Siebenjähriger mit Mittelohrentzündung krank im Bett lag, tröstete mich ein Onkel mit der Erzählung einer Heldentat meines Vaters.

Der sei, als die Franzosen anrückten, nicht wie die anderen Wehrmachtssoldaten fluchtartig über den schmalen Neckar gesprungen, sondern als einziger mitten hinein. Ich habe ihn lange deswegen bewundert. Ich sehe ihn unscharf vor mir, wie er mutig ins Wasser hopst.

Dass man ihn als Minderjährigen noch in eine Einheit zur Verteidigung des Vaterlandes steckte, hat ihn bis heute nicht losgelassen. Die Wut auf „diese Verbrecher“ scheint im Gegenteil mit jedem Tag größer zu werden, wo die Ereignisse vergessen zu werden drohen. Er redet immer häufiger davon, und so schlug ich ihm vor, an die Stelle zu fahren, an der er damals mit seinem „Heldensprung“ in den Neckar dem Nazispuk entkam.

Kurz vor diesem nasskalten Ende einer „Flakhelfer-Karriere“ wurden Soldaten seiner Kompanie noch zu einer Hinrichtung beordert. Auf einem Bauernhof bei Rottweil hatten die Bewohner ein weißes Laken aus dem Fenster gehängt: Der deutsche Kommandant ließ daraufhin den alten Besitzer des Hofes erschießen. Mein Vater hörte die Schüsse und das Geschrei aus einiger Entfernung. Der alte Mann habe bei der Erschießung noch gezuckt und gezappelt „wie ein Hampelmann“. Das hat meinem Vater einer der Exekutanten nach der Hinrichtung feixend erzählt.

Rottweil zu finden, war noch die leichteste Übung. „Dieser Hof muss in einem Waldgebiet gelegen haben, kurz hinter der Stadt.“ Also kurvten wir an einem trüben Apriltag über die Landstraßen und er schaute angespannt aus dem Wagenfenster: Viele Hügel, viel Wald und viele einzelne Bauernhöfe.

Vor einem Gehöft standen zwei alte Frauen. „Entschuldigung, haben Sie hier schon im Krieg gewohnt?“ Meine Frage hielten sie offenbar für völlig normal, denn sie fingen sofort an zu erzählen, aus welcher Richtung damals die Franzosen kamen. Nur an eine Hinrichtung konnten sie sich beim besten Willen nicht entsinnen.

Ein alter Mann in einem Bahnwärterhäuschen, der gerade dabei war, einige morsche Äste in seinen Garten zu schleppen, wollte gar nicht mehr zu reden aufhören. Er war bei der Reichsbahn und später bei der Bundesbahn, und „die Spitzbuben“ hätten ihn schwer beschissen, aber er ließe sich nichts gefallen und man werde noch von ihm hören.

Von einigen Bewohnern der Gegend, die ich nur am Telefon befragte, weiß ich nun die ganze Geschichte ihrer Kriegsgefangenschaft und wie einer von ihnen am Tag des Einmarsches die Bettwäsche seiner Schwester noch aus einem Nachbarhaus retten konnten.

Ein alter Bauer, der im Übrigen einen hervorragenden Schlehenschnaps brennt, war gerade dabei, mir jene Episode zum dritten Mal zu wiederholen, wie er einem Franzosen die Pistole aus dem Jeep stahl, als seine Frau aus der Küche heraus rief: „Pass auf, sonscht steht’s no in der Zeitung!“, was offenbar das Schlimmste ist, was einem passieren kann in der Gegend um Rottweil.

Aber eine Hinrichtung kurz vor Kriegsende? Durch deutsche Soldaten? Mein Vater, der Neckarspringer, fing langsam an, seine Erinnerung an die letzten Kriegstage für nachträglich eingebildet zu halten, als wir an einem kleinen Tümpel vorbeifuhren. „Halt an. Das ist er. Hier warf ich sie rein.“

Meine Mutter, die Zeugin der Spurensuche war, wurde ganz blass. „Hier warf ich die Munitionskisten und die Handgranaten hinein.“ Er erinnerte sich daran deshalb so gut, weil die Schienen neben dem kleinen See noch immer so verliefen wie damals.

Dieser Tümpel blieb der Einzige, was wir an Erinnerungsorten noch fanden. Ein Dutzend Angler stand stumm um das Wasser und wartete auf den Biss eines Karpfens. Wir verrieten ihnen nichts von den Handgranaten irgendwo dort unten im Schlamm. Wir wollten sie nicht erschrecken.

Fragen zum Ende? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried CHARTS