BETTINA GAUS MACHT
: Die Freude an Vorschriften

Der Glaube verfestigt sich, dass Katastrophen verboten werden können. Von oben. Das ist leider falsch

An der Kasse des Supermarktes hängt ein Schild: „Zum Schutz der Kinder und Jugendlichen hat sich REWE dafür entschieden, Streichhölzer und/oder Feuerzeuge nicht an Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren abzugeben.“ 16-Jährigen traut man also zu, ohne Aufsicht eine Kerze anzuzünden? Ist das nicht leichtsinnig? Vielleicht wäre es doch besser, das Mindestalter für die Abgabe derart gefährlicher Güter auf 25 festzulegen. Und den Verkauf an die Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses zu knüpfen.

Der Filialleiter versteht weder meine Ironie noch auch den Sinn der Vorschrift, die, wie er sagt, „von oben“ verfügt worden sei. Von der Unternehmensspitze also. Er vermutet, die Regelung solle es Jugendlichen erschweren, heimlich zu rauchen. Und nein, vor mir habe sich noch niemand bei ihm nach dem Sinn des Verkaufsverbots erkundigt oder gar darüber beschwert.

Das glaube ich unbesehen. Die Reglementierung des Lebens kann noch so ausgefeilt sein – sie wird nicht nur hingenommen, sondern begrüßt. Und eingefordert, wo es sie nicht gibt. Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, ob es um eine gesetzliche Norm oder um soziale Kontrolle geht. „Sehen Sie nicht, dass die Ampel rot ist?“ – „Von rechts anstellen.“ – „Helmpflicht!“

Irgendein Teil im Auto piept nervenzerfetzend, wenn ich den Sicherheitsgurt nicht sofort anlege. „Den Mechanismus dürfen wir nicht ausschalten“, sagt der Werkstattleiter. Nicht einmal die Entscheidung, ob ich die Straßenverkehrsordnung verletzen und ein Bußgeld riskieren will, wird mir noch selber überlassen.

Einst war meine Generation angetreten, um Konventionen aufzubrechen. Heute sind meine ehemaligen Klassenkameraden die Prüfer des moralischen Koordinatensystems. Kinder sollen nicht übergewichtig sein, Müll ist zu trennen, Fernreisen werden fürs Glück nicht gebraucht. Alles wahr, alles richtig. Es ist mein Problem, dass all das in mir den Wunsch erweckt, ein richtig schlechter Mensch zu sein. Ein ganz übles Computerspiel zu starten und Pfandflaschen in den Wald zu werfen.

Allerdings ist nicht einmal theoretisch alles wahr und richtig. Der künftige Großflughafen Berlin-Schönefeld tut sich bereits jetzt mit einer besonders blödsinnigen Sicherheitskontrolle hervor. Die sorgt schon lange vor den Schaltern der einzelnen Fluglinien für Schlangen, und wenn man Pech hat, dann wird man beim Einchecken noch einmal zurückgeschickt, weil ein Bändchen am Köfferchen fehlt. Dann fängt alles von vorne an.

Eine schwachsinnige Idee, finden wir und sagen das zueinander. Nicht laut oder aggressiv. Eher achselzuckend. Die Angestellte der Fluglinie, die weder angesprochen ist noch für den Murks verantwortlich, weist uns scharf zurecht: „Das ist nicht schwachsinnig, das ist ein Sicherheitssystem.“ Selbstverständlich. Deshalb sind wir ja folgsam. Aber wir müssen es doch nicht toll finden, oder? „Sie dürfen das hier nicht kritisieren.“ Sie irrt. Wir dürfen. Noch.

Es scheint ein dringendes Bedürfnis nach Vorschriften und Normen zu geben, anders ausgedrückt: nach umfassendem Schutz. Deshalb wird nach landesweit verschärften Kontrollen gerufen, wenn jemand völlig überraschend in einem Amtsgericht einen Staatsanwalt erschießt. Deshalb werden Grundsatzfragen gestellt, wenn der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes eine Havarie verursacht, der auf dem Wasser offenbar über weniger Verantwortungsgefühl verfügt als ein Tretbootfahrer. Aber Tragödien kommen eben vor. Nicht alles lässt sich regeln.

Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: A. Losier