Sinfonie des Lebens

Das menschliche Erbgut vertonen? Eine gute Idee, findet der Komponist Thilo Krigar. Die Uraufführung des kompletten Notensatzes soll im Mai stattfinden

VON GUNNAR LEUE

Die Hitwerdung von Musik gehört noch immer zu den mittelgroßen Menschheitsrätseln, allerdings nicht für Dieter Bohlen. Warum ausgerechnet seine Kompositionen so erfolgreich sind? „Ich sitze nicht zu Hause und schreib ’ne schöne Nummer, sondern ich überleg, ob ich die Nummer auch vermarkten kann.“ Bohlen kann immer. Musiker, denen ihre Ansprüche wichtiger sind als der Erfolg, sind für ihn Deppen. Warum brotlose Kunst für die Ewigkeit machen, wenn die Früchte des Heute locken?

Der Komponist Thilo Thomas Krigar ist vermutlich genau der Typ Kollege, den Bohlen als hoffnungslosen Fall betrachten dürfte. Der 43-jährige Berliner, der mit seiner Nickelbrille sehr dem altmodischen Klischee seines Berufsstandes entspricht, schreibt an einem Werk für die Ewigkeit. Deshalb lebt er in einer 52-Quadratmeter-Wohnung in Charlottenburg; Hinterhof, Ofenheizung, 159 Euro Miete. In den Zimmern stehen nur wenige alte Möbel; was auffällt, sind die vielen Bücher und ein großer Flügel. Alles wirkt ein bisschen verkramt, ein „armer Künstler“-Idyll unserer Tage. „Ich will nicht unter Druck sein, Geld verdienen zu müssen“, sagt Thilo Krigar. „Ich möchte mich aufs Komponieren konzentrieren.“ Anders ausgedrückt: Mit dem Komponieren verdient er wenig. Seinen Lebensunterhalt finanziert er nicht nur durch Konzerte als Cellist, sondern coacht dank einer neurolinguistischen Ausbildung nebenbei Unternehmer, Künstler oder Arbeitslose.

Seit fast fünf Jahren arbeitet er an einer Komposition, die man wohl schon jetzt als sein Lebenswerk bezeichnen darf: der Vertonung des menschlichen Erbguts! Auch als naturwissenschaftlich Minderbegabter horcht man auf. Wörter wie Zelle, DNA, Ribosom schwirren auf entfernten Bahnen durch den Kopf, ohne wirklichen Zusammenhang. Man weiß nur, es hat etwas mit unserem Erbgut zu tun. Und das soll in Musik umgewandelt werden!?

Wenn Thilo Krigar darüber spricht, macht er nicht den Eindruck eines Spinners. Eher den eines klugen und neugierigen Menschen, der sich in ein künstlerisches Abenteuer verstrickt hat. Vielleicht ist auch das eine Frage der Gene, denn Krigar entstammt einer alten Berliner Künstlerfamilie, in deren Stammbaum auch der Maler Adolf Menzel zu finden ist. Die Krigar-Eltern arbeiteten beim Film, der Bruder ist ein erfolgreicher Maler. Den jungen Thilo zog es dagegen zur Musik. Als er mit 16 Jahren beim Unterricht mit einem Freund Bachs „Kunst der Fuge“ spielte, begeisterte sich ihre Lehrerin an einer besonders komplizierten Stelle: Wenn man das versteht, versteht man die Schöpfung! „Es ließ uns nicht mehr los. Wir lasen dann auch Sachen über Zusammenhänge zwischen Bachs Kontrapunkt und biologischen Prozessen und waren regelrecht fasziniert von dem Gedanken, Genialität anschaulich werden zu lassen.“

Der eine, Krigar, wurde später Komponist, der andere Molekularmediziner. Als solcher ist er mittlerweile wiederum zum wissenschaftlichen Berater von Thilo Krigar geworden. Der ist als Komponist „immer auf der Suche nach stilistisch Neuartigem“. Angeregt fühlt er sich dabei nicht etwa durch andere Musik, denn „die gibt es ja schon“, sondern durch Texte, Bilder, philosophische oder wissenschaftliche Erkenntnisse. Er schuf „musikalische Bilder zur Odyssee“ oder eine „musikalische Morgenlandfahrt“ zu Goethes „West-östlichem Divan“, die er mit seinem Streichquintett Pythagoras Strings einspielte. Der eigentliche Auslöser für sein musikalisches Genom-Projekt war das Buch „Gödel, Escher, Bach“ des Physikers und Philosophen Douglas R. Hofstadter, das er vor rund zwanzig Jahren las. „Seitdem habe ich immer mit der Idee gespielt, den biologischen Ursprung der menschlichen Schöpferkraft musikalisch auszudrücken.“

Dafür beschäftigte er sich intensiv mit der Molekularbiologie, studierte quasi nebenbei über die Grundlagen des Lebens. Deshalb kann er genau erklären, dass in jedem Moment 70 Millionen Zellen eines Menschen einen Erneuerungsprozess durchmachen. „Ohne den würde man sterben. Es ist sozusagen der Fluss des Lebens, verpackt in genetischen Informationen, genauer gesagt in die DNA.“

Diese ständige Selbstschöpfung des Menschen, ein in Jahrmillionen bewährtes Prinzip, interessiert Krigar besonders – „weil diese Autopoesis mit Kreativität zu tun hat“. Er will den biologischen Prozess als Modell für sein eigenes Schaffen nehmen und mit seinem Werk zugleich Kreativität und Konstruktivität feiern. Die Beantwortung der Frage, wie weit man in der Gentechnik gehen darf, hält Krigar hierbei für eminent wichtig, die aktuelle Auseinandersetzung allerdings „von allgemeiner Unkenntnis“ geprägt. Der Musiker findet, die Erkenntnisse der molekularen Genetik – deren Grundlagen James Watson und Francis Crick 1953 mit der Erforschung der DNA-Struktur schufen – sollten nicht ausschließlich in ihrer medizinischen und ökonomischen Verwertbarkeit gesehen werden, sondern auch als Voraussetzung für die Existenz lebendiger Wesen.

Krigar möchte ein sinnliches Erlebnis vermitteln, das dem Hörer „auf einer neuen logischen und emotionalen Ebene“ eine Auseinandersetzung mit dem Thema Genetik ermöglicht. Nicht ganz so einfach lässt sich die Umsetzung dieser Idee beschreiben. Simpel gesagt bedient sich der Komponist der jahrhundertealten Erfahrung, dass Musik viel mit Mathematik zu tun hat, Töne schlicht Intervalle sind. Bei der Vertonung der Erbinformation dringt Thilo Krigar bis in die kleinste Ebene der Zelle vor, indem er jedes einzelne Atom eines DNA-Strangs in eine Klangarchitektur übersetzt, was etwa vier Minuten seines Werkes ausmacht.

Für den Rest des Stückes hat er die Zellvorgänge etwas abstrakter vertont, zum Beispiel die aus 30.000 Atomen bestehenden Ribosome beziehungsweise die Bindungen zwischen ihnen. Denn die sind das Entscheidende, weil sie für das Geschehen in der Zelle sorgen. „Es bilden sich ständig neue Molekularbindungen, vergleichbar mit Akkorden und Harmonien, die zerfallen und neu entstehen.“ Diese molekularen Bindungen übersetzt Krigar in die Intervalle der Musik, wandelt sie in Töne und Tonlängen um, wozu er bestimmte Parameter des Atoms zur Berechnung heranzieht. Wenn dabei ästhetisch uninteressante Klänge – Monotonie oder ein totales Chaos – entstehen, verwirft er seine Arbeitsweise und entwickelt passendere Modelle: „Ich will ja nicht irgendwelche Töne fabrizieren, sondern solche, die in ihrer Klanggestalt den Charakter des Prozesses vom genetischen Fluss tragen.“ Je nachdem, welche Phase der Zellaktivität beschrieben wird, ändert sich auch das Klangbild.

Als „zeitgenössische, moderne, relativ anspruchsvolle, aber keine atonale Musik“ skizziert Thilo Krigar seine Komposition. „Wenn man sich eingehört hat, entsteht eine nachvollziehbare Harmonik.“ Das Ganze klingt zum Teil wie Minimal Musik, was die Sache für den Musikhörer nicht einfacher macht. „Neue Musik hat ein Fachpublikum, dabei ist sie sehr wichtig für die Gesellschaft“, findet Krigar. Was ist noch verstehbar? Wie kann sich unsere Vorstellungskraft ausdehnen? Das sind für ihn Fragen, die über die Musik hinausgehen. „Der empfundene Stillstand in Deutschland hat auch mit der geringen Vorstellungskraft der Menschen und dem Fehlen geistiger Weiterentwicklung zu tun, mit dem Konsumieren der immergleichen Dinge zur Selbstbetäubung.“ Man denkt an Dieter Bohlen und dass es womöglich doch einen Zusammenhang gibt zwischen dem Erfolg seiner genormten Musik und dem Zustand dieses Landes.

Zweimal im vergangenen Jahr hat er Ausschnitte seines Werks mit den Pythagoras Strings aufgeführt. Auch um das Interesse an seiner Arbeit zu wecken. Es ist ihm gelungen, nicht zuletzt bei Wissenschaftlern. Das vom Bundesforschungsministerium 2004 veranstaltete „Jahr der Technik“ ermöglichte Thilo Krigar die Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut für Digitale Medientechnologie Ilmenau, das einen Ausschnitt von „DNA in Concert“ in einem neu entwickelten Soundsystem produzierte.

Nachdem diese räumliche, besonders plastische Darstellung in Duisburg vor Spitzenkräften aus Wissenschaft und Wirtschaft präsentiert wurde, lobte ein Forscher: „Das ist endlich mal keine Wissenschaftsfolklore, sondern macht wirklich nachdenklich.“

Dagegen zeigte sich das höhere Personal im etablierten Berliner Kulturbetrieb eher bedenkenträgerisch. So war für das Projekt, für das der Hauptstadtkulturfonds Mittel zugesagt hat, jahrelang kein Veranstalter zu gewinnen. Nach langem Anlauf wird die Uraufführung des 70-Minuten-Opus nun am 28. Mai im Berliner transmedialen Kulturzentrum T.E.S.L.A. im Podewilschen Palais stattfinden. Um dem Hörer den Fluss der genetischen Information zu veranschaulichen, sollen über, unter und um das Publikum herum Lautsprecher eine besondere Klangperspektive erzeugen. Krigar ist überzeugt, dass es für einen Mediziner spannend ist, das muntere Treiben in einer Zelle mal als Tonabfolge im 360-Grad-Surround-Sound zu erleben.

Wenn das große DNA-Konzert nach vier Jahren Vorbereitung über die Bühne gegangen ist, bedeutet das für Thilo Krigar keineswegs das Ende vom Lied. „Dann fängt die eigentliche Forschungsarbeit erst richtig an. Wie das Leben wird sich mein Stück kompositorisch immer weiterentwickeln.“ Von einer sinfonischen Fassung bis zum multisensorisch interaktiven Cyberdisplay sei alles möglich. Work in Progress nennt er das. Ein Werk für die Ewigkeit.

GUNNAR LEUE, 42, freier Autor in Berlin, bekam als Kind eine Blockflöte geschenkt, kann aber bis heute keine Noten lesen