Der Frieden um die Ecke

Können Hutu und Tutsi problemlos zusammenleben? Burundi soll die Lösung gefunden haben: Durch radikale Ämterquotierung wurde der Bürgerkrieg beendet. Aber jetzt festigt das Verfahren nur noch Korruption und Straflosigkeit. Ernüchterung macht sich breit – auch über das Gerede vom Unterschied zwischen Hutu und Tutsi

AUS BUJUMBURA DOMINIC JOHNSON

Das Flugzeug kommt zum Stillstand, das Treppchen wird herangefahren. Noch bevor die ersten Passagiere den heißen Asphalt des Flughafens von Burundis Hauptstadt Bujumbura betreten, rast eine Autokolonne heran. Aufgeregte Soldaten in grünen Mützen springen heraus und wedeln mit Gewehrläufen. Ein beleibter Fluggast erreicht den Boden. Sofort wird er umringt und weggebracht. Im Eiltempo brausen die Autos davon. Keine zehn Sekunden dauert das Schauspiel.

„Das war Jean Minani“, sagt einer der verdutzten Zuschauer im Abfertigungsterminal, von dem aus man hinter der Landebahn auf grüne burundische Wiesen und braune kongolesische Berge sieht. Minani – Burundis oberster Volksvertreter, Präsident des Parlaments, jahrelang prominentester Exilpolitiker und Volksheld? Er schirmt sich vom Volk ab und stiehlt sich davon wie ein Bandit auf der Flucht. Im Flughafengebäude lästert man kurz und wendet sich wieder den Teetassen zu.

Ist das Burundis Friedensprozess kurz vor seinem Abschluss? Dieser international hochgepriesene Ausgleich zwischen verfeindeten Hutu und Tutsi, einmalig für das Afrika der Großen Seen? Glaubt man auswärtigen Experten, ist Burundi ein Labor für Afrikas Zwischenseenregion: Durch eine Machtteilung zwischen Tutsi- und Hutu-Politikern wird die Demokratie – in der die Hutu-Mehrheit sicherer Wahlsieger ist – ergänzt um Garantien für die Tutsi-Minderheit, die diese vor Ausrottung schützt. Aber in Burundi selbst hört man darüber kaum noch gute Worte. „Wir sind zwar nicht so schlimm wie der Kongo, aber nicht mehr weit davon entfernt“, sagt ein prominenter Führer der Zivilgesellschaft.

Es waren südafrikanische Vermittler, die sich die Quote ausdachten. So wie Südafrikas Weiße mit einer schwarzen Mehrheitsregierung koexistieren sollten, so sollte auch Burundis Tutsi-Elite ihre Macht mit den Hutu teilen lernen, war das Credo von Nelson Mandela, als er zum Höhepunkt des Krieges zwischen Hutu-Rebellen und Tutsi-Militär in Burundi Mitte der 90er-Jahre die schwierige Friedensvermittlung auf sich nahm.

Aber Burundi ist nicht Südafrika. Hutu und Tutsi sind keine getrennten Ethnien. Hutu ist in Burundi und Ruanda eine Bezeichnung für Bauern, Tutsi für Viehzüchter – also soziale Schichten innerhalb der gleichen Gesellschaft. Erst der koloniale Rassismus definierte Tutsi zur herrschenden Aristokratie um. Und erst der postkoloniale spiegelbildliche Rassismus setzte Befreiung mit Machtergreifung der Hutu gleich.

In der extremsten Version führte dieses Denken 1994 in Ruanda zum Versuch der planmäßigen Ausrottung der Tutsi. In Burundi kam es nie so weit, weil Tutsi-Offiziere die Macht behielten. Aber der Bürgerkrieg 1993–2003, der unter sechs Millionen Einwohnern 300.000 Tote forderte, stand unter nicht minder fatalen Zeichen: Hutu-Extremisten wollten die Tutsi („Kakerlaken“) verjagen; Tutsi-Extremisten wollten die Hutu („tollwütige Hunde“) unterwürfig halten.

Das Friedensabkommen von Arusha, geschlossen 2000 und Basis des seit 2001 laufenden Friedensprozesses in Burundi, institutionalisiert den rassistischen Diskurs. 40 Prozent Tutsi, 60 Prozent Hutu lautet die Zauberformel für die Regierung, 50:50 für die Armeeposten. Ein Tutsi-Präsident kriegt einen Hutu-Stellvertreter, oder umgekehrt. Von welcher Partei, ist egal. So werden Ethnien, die eigentlich keine sind, identitätsstiftend.

Für viele Burunder ist dies eine Mumifizierung der politischen Kultur. Der Politologe Venant Bamboneyeho spricht von einem „Exotismus des Absurden“ und ärgert sich: „In einem normalen Land haben Parteien eine Philosophie. Wenn sie stattdessen nur eine Biologie haben, bleibt nichts.“

Burundis Bürgerkrieg war brutal. Die Hutu-Rebellen übten auf lokaler Ebene Praktiken des Genozids an Tutsi aus, wie sie kein halbes Jahr später im benachbarten Ruanda verallgemeinert werden sollten. Burundis Militär wiederum, kommandiert von einer seit den 60er-Jahren herrschenden schmalen Tutsi-Elite aus dem Süden, wandte eine Politik der verbrannten Erde an: Großflächig wurden Bauern in Wehrdörfer gepfercht. Heute leben in Burundi 95 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag – inmitten fruchtbaren Landes, verbunden durch die besten Überlandstraßen der Region, unverzichtbarer Nerv des Krieges.

Massaker an Zivilisten gehörten zum Kriegsalltag. Aber eines war seltsam: Es gab kaum je größere Schlachten zwischen Armee und Rebellen. Tagsüber regierte das Militär, nachts die Rebellion. Am Stadtrand der mehrheitlich von Tutsi bewohnten Hauptstadt Bujumbura sperrten spätnachmittags Soldaten die Ausfallstraßen ab. Ab dann regierte dahinter, in den Bergen und Hutu-Stadtvierteln, der Feind. Ein ähnliches Schauspiel gab es in vielen Landesteilen. Morgens schwärmte das Militär wieder aus. Krieg gab es, wenn die Arbeitsteilung verletzt wurde: Wenn die Armee nachts in die Berge vordrang oder die Rebellen tagsüber die Hauptstadt mit Raketen beschossen.

Ansonsten verdienten die Führer beider Seiten an Burundis Kriegswirtschaft, eng mit der Schmuggelwirtschaft des Kongo verknüpft. Zu den schlimmsten Kriegszeiten entstanden in Bujumbura die meisten Villen: Ganze Stadtviertel voller Luxus, mit Hutu- und Tutsi-Größen gemischt.

Das Morden hat der heutige Frieden aus dem System entfernt. Das ist eine große Leistung. Aber ansonsten bleibt das System intakt, mitsamt seiner Brutalität und schreienden sozialen Ungleichheit. Alle stehlen, aber niemand wird zur Rechenschaft gezogen, da sonst die Quoten verrutschen. „Der Staat verfault“, so Christophe Sebudandi, Leiter der Nichtregierungsorganisation OAG (Observatoire de l’Action Gouvernementale). „Jeder hat ein Stück Macht bekommen, das er zur eigenen Bereicherung verwenden darf. “

Ein Angehöriger der Allparteienkommission für die Überwachung der Übergangsregierung erklärt das System so: „Die Korruption läuft über die Staatswirtschaft. Ein Staatsangestellter wohnt in einem staatlichen Haus zum Mietkauf. Er verdient im Monat 35 Dollar, also könnte er sich das normalerweise nicht leisten. Er ist auf das System angewiesen – lebenslang.“ Außerhalb des Staates gibt es in Burundi kaum reguläre Arbeit. So hält „das System“ die Menschen loyal. Der Kommissar, selbst Tutsi, macht dafür den letzten Tutsi-Diktator Pierre Buyoya verantwortlich. Anstatt das Land zu entwickeln, habe er Staatsgelder gestohlen, um damit alle zu korrumpieren, bis heute. Nicht nur Tutsi, auch Hutu. Und auch seinen Nachfolger, den amtierenden Hutu-Präsidenten Domitien Ndayizeye.

Ndayizeyes Baustellen sind Stadtgespräch in Bujumbura. „Hast du das Riesending neben dem Präsidentenpalast gesehen?“, wird der auswärtige Besucher mindestens einmal am Tag gefragt. „Das ist das Haus des Präsidenten.“ Eine andere präsidiale Baustelle befindet sich ausgerechnet gegenüber der Zentrale von Burundis führendem privaten Radiosender. Diskretion gehört nicht zu Ndayizeyes Stärken.

Gemäß dem Friedensvertrag lief Ndayizeyes Amtszeit im November 2004 ab. Aber weil die amtierende Allparteienregierung die freien Wahlen, die den Friedensprozess abschließen sollen, nicht richtig vorbereitet hat, regiert sie eben weiter.

Einen Wahltermin gibt es bis heute nicht, dafür aber schon jetzt ein Wahlergebnis. Denn wer in Burundi nicht lesen und schreiben kann, und das ist die Mehrheit der Bevölkerung, darf laut Wahlgesetz seine Stimme an einen „Schreiber“ delegieren, der das Kreuz auf dem Wahlzettel macht. Unter der Hutu-Bauernbevölkerung tobt daher erbitterte Konkurrenz zwischen der zivilen historischen Hutu-Partei Frodebu (Front für Demokratie in Burundi), die die lokale Verwaltung kontrolliert, und den einstigen Hutu-Rebellen der CNDD (Nationalkomitee zur Verteidigung der Demokratie), die die Waffen haben. „Es wird keine freien Wahlen geben“, warnt Burundis führender Menschenrechtler Eugène Nindorera. „Der Verwaltungschef wird zum Beispiel Leute von der Liste der Empfänger von Lebensmittelhilfe streichen, wenn sie keine Frodebu-Stimme akzeptieren. Oder jemand kauft der Dorfgemeinschaft Bier und sagt hinterher: Jetzt überlasst ihr mir doch die Stimmen, oder?“

Nach einhelliger Meinung steht also der Sieg der einstigen CNDD-Rebellion fest. Ihr Führer Pierre Nkurunziza, derzeit absurderweise „Minister für gute Regierungsführung“, dürfte Burundis nächster Präsident werden. Der Wahlsieg eines Hutu-Rebellenchefs direkt neben Ruanda, wo bewaffnete Hutu Völkermord verübt haben, wird international voreilig als Zeichen für eine Machtverschiebung in der Region gewertet. Eine Fehlkalkulation: Burundis CNDD lud zu ihrem letzten Parteitag Ruandas herrschende RPF (Ruandische Patriotische Front), die einstige ruandische Tutsi-Rebellenbewegung, ein und soll ihr versprochen haben, Burundi nicht zum Aufmarschgebiet für ruandische Hutu-Milizen zu machen. Vieles spricht für eine realpolitische Freundschaft zwischen diesen beiden großen Guerillabewegungen, die jeweils in ihrem Land den Krieg gewonnen haben.

Aber wäre der Rebellensieg für Burundi gut? Die CNDD lehnte als einzige Partei Burundis eine Wahrheitskommission ab und machte Straflosigkeit für Kriegsverbrechen zur Bedingung ihres Friedenswillens. „Ein CNDD-Sieg wäre ein großes Risiko“, warnt Sebudandi. „Als Erstes werden sie sicherstellen, dass niemand mehr wegen irgendwas vor Gericht gestellt werden kann.“

Die gigantischen Massaker an Hutu durch das Tutsi-Militär in den 70er-Jahren, die Kriegsverbrechen beider Seiten im Bürgerkrieg ab 1993 – über all dies deckt sich heute Schweigen. Natürlich können sich Angehörige der entmachteten Tutsi-Elite mit Straflosigkeit unter Hutu-Herrschaft arrangieren. Und die CNDD muss ja bei einem Wahlsieg die Tutsi-Quote von 40 Prozent einhalten. So wirbt sie jetzt scharenweise junge Tutsi an – vor allem solche, die von früheren Diktaturen nicht profitierten.

Nach den Wahlen wird Burundi die paradoxe Situation haben, dass nur solche Tutsi Macht ausüben, die in einer Hutu-Partei aktiv sind. Die klassischen alten Tutsi-Parteien bleiben außen vor. Das birgt ein Risiko, denn diese Kleinparteien könnten zu Gewalt greifen.

Aber es birgt auch die Chance auf eine Überwindung der ethnischen Trennungen. Gerade weil der Friedensprozess jetzt in seiner korrupten Blüte die Menschen enttäuscht, könnte er die ihm zugrunde liegende ethnizistische Ideologie diskreditieren – eine List der Vernunft, auf die Hegel stolz wäre. Jahrzehntelang begründete der rassistische Diskurs, der Tutsi und Hutu zu getrennten Ethnien erklärte, systematische Diskriminierung – heute begründet er einen Zustand, wo beide Seiten gleichberechtigt sind, aber sich hinter ihrer Identität verstecken, um Untaten zu legitimieren. Wäre es nicht an der Zeit, die Ethnisierung fallen zu lassen und Politiker nach Fähigkeit zu beurteilen?

„Die Leute haben die Schnauze voll“, analysiert Aloys Niyoyita vom Radiosender Ijambo. „Sie haben entdeckt, dass hinter dem Gerede von Ethnien nur materielle Interessen stecken. Alle Welt will den Wandel, und Wandel heißt, dass die Führer beider Seiten gehen.“ Der Radiojournalist gehört zu einer Generation junger Burunder, die von den Hutu/Tutsi-Identitäten der Vergangenheit nur noch angewidert sind. Aus ihrer Sicht könnte nun der lange Weg in eine bessere Zukunft beginnen.

Auf Burundi kommt also eine große Herausforderung zu. Aber nicht die, an die die Friedensstifter von Arusha dachten. Es geht nicht um den Ausgleich zwischen Hutu und Tutsi – den gibt es längst. Es geht um den Ausgleich zwischen oben und unten. Und den hat noch niemand geschafft.

DOMINIC JOHNSON, 38, ist Afrika-Redakteur der taz