Vermeintliche Freiheit

Arbeitszeit gilt nicht mehr als Leistungsmaßstab. Zielvorgaben und mehr Handlungsspielraum sollen das Engagement steigern. Doch das macht Kollegen gleichzeitig zu knallharten Konkurrenten

VON TILMAN VON ROHDEN

Wer glaubt, die Globalisierung mache ausschließlich viele Arbeitnehmer überflüssig, der irrt. Überflüssig ist in vielen Betrieben mittlerweile auch die Stechuhr, die die Arbeitszeiten protokolliert. Diese Art von Arbeitszeitkontrolle gehört der Vergangenheit an. Und wenn Arbeitnehmer heute noch Gelegenheit haben, an der Stechuhr zu schummeln, dann tun sie das allzu oft aus scheinbar selbstlosen Gründen: Man loggt sich abends ordnungsgemäß aus und kehrt anschließend an den Schreibtisch zurück, um unbezahlt weiterzuarbeiten.

Nach oben limitierte Leistung reicht nicht mehr

Das Ende der jahrzehntelang verhassten Stechuhr können die Gewerkschaften sich nicht auf ihrem Konto gutschreiben. Es waren die Arbeitgeber, die den Tod der Uhr, zuerst bei IBM, beschlossen haben. Rund sechs Jahre ist das nun her.

Dahinter steht die Erkenntnis, dass das althergebrachte Kommandosystem aus Sicht von Arbeitgebern letztlich ineffizient ist, weil es den Angestellten nur eine nach oben limitierte Leistung abverlangt. Neue Führungstechniken, die mit einer indirekten Steuerung der Angestellten über Zielvorgaben arbeiten, führen im Gegensatz dazu, dass die Arbeitnehmer sich verhalten wie Unternehmer und ihre Tätigkeit auf Gewinnmaximierung ausrichten. Dazu rackern die „neuen Selbstständigen“ in den Unternehmen im Idealfall von morgens bis in die Nacht hinein. So wird aus dem abhängig Beschäftigten ein Mitarbeiter neuen Typs: Er arbeitet als Angestellter und verhält sich wie ein Selbstständiger. Er hat fast die Freiheiten eines Unternehmenslenkers und ist doch der Sklave des Anspruchs, alles für sein Unternehmen zu geben.

Statt der Stechuhr gilt die so genannte Vertrauensarbeitszeit: Die Beschäftigten haben die Freiheit, so viel oder so wenig zu arbeiten, wie sie möchten. Egal ob sie dies morgens, mittags oder nachts tun. Es interessiert niemanden. Wohl aber, dass die mit der Leitungsebene verabredeten Zielvorgaben eingehalten werden. Insofern vertrauen die Unternehmen nicht ihren Angestellten, sondern den neuen Führungstechniken. Der Begriff „Vertrauensarbeitszeit“ vernebelt die wahren Verhältnisse also eher, als dass er sie beleuchtet.

Die neue Selbstständigkeit führt zu einem „Maß an Selbstständigkeit und Freiheit, das keiner mehr missen möchte“, sagt Klaus Peters. Der studierte Philosoph ist Mitbegründer des Instituts für Autonomieforschung Cogito in Köln. Peters ist kein Gegner der neuen Selbstständigkeit, er erklärt die Entwicklung für unumkehrbar. Aber er weist darauf hin, dass diese Vorteile ihren Preis haben, denn die neuen Selbstständigen würden für den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Gruppe „zuständig gemacht“, so Peters.

So komme es häufig vor, dass sich die neuen Selbstständigen gegen an sich notwendige Neueinstellungen wehren, weil sich dadurch die Kosten erhöhen und die Ergebnisse der Gruppe schmälern. Dies hat dann Einfluss auf den Lohn, der zu einem erheblichen Teil in Form von Erfolgsboni gezahlt wird. „Das Perfide an diesem System ist, dass die Beschäftigten selbst zum Motor dafür werden, dass der Leistungsdruck steigt“, sagt Peters. Der Endpunkt der Entwicklung sei erreicht, wenn ein Kollege dem anderen mitteile: „Wir können es uns nicht leisten, dass du dich an die vertraglich geregelten Arbeitszeiten hältst, weil wir dann unser Ergebnis nicht schaffen.“

Selbstausbeutung begrenzen, aber wie?

Eine an der Dortmunder Universität, Lehrstuhl für Organisationspsychologie, erstellte Studie zu den psychischen und fachlichen Anforderungen an die neuen Selbstständigen kommt zum Ergebnis, dass eine gelungene Work-Life-Balance und eine Regulierung und Begrenzung von Selbstausbeutung wesentliche Fähigkeiten im Arbeitsleben sein werden. Wie diese im Arbeitsalltag durchzusetzen sind, lassen die Autoren der Studie offen. Es ist nicht ihr Anliegen.

Anders die Gewerkschaften. Sie müssten antworten können, wollten sie sich nicht selbst überflüssig machen. „Wir brauchen Regeln, es müssen Haltelinien eingezogen werden“, sagt Hans-Joachim Schabedoth, Leiter der DGB-Grundsatzabteilung. Die neue Selbstständigkeit sei „bloßer Etikettenschwindel“. Dennoch bleibt eine Frage unbeantwortet: Wie kann es gewerkschaftlichen Schutz geben, wenn es die Beschäftigten selbst sind, die die Regelungen außer Kraft setzen, die zu ihrem Schutz vereinbart worden sind? – Und täten sie es nicht, es wäre ihr Untergang bei den Kollegen.