Nach Erinnerungen tauchen

Michael Wildenhain verwebt in seinem Roman „Russisch Brot“ detailbesessen deutsche Nachkriegsgeschichte und individuelles Leiden und zeugt von dem Versuch, nie Gelebtes nachzuholen. Lesung heute im Literaturzentrum

Historie schlägt plötzlich in private Biographien ein

Erinnerung ist eine vage Angelegenheit. Sie ist selektiv, sie erfährt im Laufe der Zeit Metamorphosen. Doch gibt es keine Alternative zum Sich-erinnern, will man die Vergangenheit nicht abschneiden. Michael Wildenhain verwebt in seinem neuen Roman Russisch Brot, aus dem er jetzt im Literaturzentrum lesen wird, verschiedene Ebenen der Erinnerung. Er entwirft ein Gedächtniskaleidoskop, in dem die große Geschichte sich untilgbar in die individuellen Lebensläufe seiner Figuren einbrennt.

Ich-Erzähler der eigenen Familiengeschichte ist Joachim Rößler, der jedoch mitnichten die Erinnerungsfäden souverän in der Hand hält. Er wächst auf im Berlin der 60er, 70er Jahre; davon hat er eigene Bilder – ebenso wie der 1958 geborene Autor. Die Spuren der Mutter, des Vaters und der Großeltern, denen Joachim folgt, reichen jedoch zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Und die erzählte Zeitspanne erstreckt sich bis zum Fall der Mauer.

Lebendig wird hier das Berlin der Nachkriegszeit. Noch sind die Ausflüge des Jungen und seiner Mutter nach Ostberlin, wo der Großvater, die Schwester der Mutter und deren Tochter leben, unkompliziert. Die Sommernachmittage in der Gartenkolonie, die Hitze, der Staub – die Intensität der kindlichen Wahrnehmung weiß Wildenhain sehr sinnlich heraufzubeschwören.

Doch die Idylle will nicht halten: Bald müssen Besuche beantragt werden. Und ein Mann, der manchmal im großväterlichen Garten auftaucht, verstört den Erzähler. Seine Mutter Inka und der Unbekannte scheinen seltsam voneinander angezogen. Ein Foto, das die Mutter als Mädchen mit einem etwa gleichaltrigen Jungen zeigt, spielt eine tragende Rolle.

Das Beunruhigende der Gegenwart führt in die Kindheit und Jugend der Mutter und somit in eine von Krieg, Flucht und Verlust gezeichnete Zeit. Hier aber liegt auch der Ursprung einer erst kindlichen, dann erwachsenen Liebe zwischen der Mutter und jenem Jungen vom Foto, dem unbekannten Mann, Günter, die doch nie gelebt werden konnte.

Wildenhains Figuren ist die Erinnerung eine Notwendigkeit. Dem Erzähler erschließt sich damit das Rätsel seiner Mutter, das mit seiner Herkunft verknüpft ist. Die Mutter wiederum ist vollkommen eingesponnen in ihre Erinnerungen – eine Kraft und Gegenwart aufsaugende Macht, in ihrer Doppelgesichtigkeit trotzdem lebensnotwendig.

Inka und Günter sind einander viel gewesen, schon als Kinder. Dann als Heranwachsende. Es war ein Ereignis kurz vor Kriegsende, das den gemeinsamen Weg verstellte. Hier lässt der Autor die historische Situation unmittelbar in die privaten Biographien einschlagen: Günter wird Inka gegenüber schuldlos schuldig. Das Schönste und das Schrecklichste sind von nun an nicht mehr zu trennen. Russisch Brot erliegt zuweilen einer Sprache, die jedes Detail aufnehmen will und dabei ihren Rhythmus verliert. Insgesamt aber ist der Roman ein eindringliches, mit sensibler Hand gelegtes Erinnerungspuzzle. Carola Ebeling

Michael Wildenhain: „Russisch Brot“. Stuttgart 2005, 272 S., 18,50 Euro. Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38