„Das war eine andere Welt“

Die Jugend von heute trifft die Opfer von damals – in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Was haben sie sich zu sagen? Eine Begegnung der Generationen

VON ANNE SEITH

Nicht bohren, bloß keine Wunden aufreißen. Das haben sich viele der ehrenamtlichen Helfer vorgenommen. Retraumatisierung, das könne schon passieren, hieß es auf der Einführungsveranstaltung. Ein wenig unschlüssig stehen sie deshalb da, vor der soeben enthüllten Plakatausstellung an der KZ-Mauer, als die Gedenkstättenmitarbeiterin sagt, sie sollen sich einfach untermischen. Gucken, wer was braucht von den rund fünfzig alten Menschen, die zu der ersten Veranstaltung der Gedenkfeiern gekommen sind.

Doch fragen ist gar nicht nötig. Ein Mann stürzt auf eines der Werke zu und winkt, krempelt sich den Ärmel hoch, hält dem Kamerateam triumphierend seinen riesigen Unterarm mit der tätowierten Häftlingsnummer in die Linse. Ein anderer lässt seinen Blick wandern, gesellt sich zu diesem und jenem, setzt immer wieder an, erzählt: Wie er Panzerfäuste zusammenbauen musste, Stunde um Stunde, wie zum Appell gerufen wurde, wie sein Vater lange Zeit dachte, er sei mit dem Bruder umgekommen. Auch als der Gedenkstättenleiter das erste Mal in diesen Tagen sein „Liebe Damen und Herren, liebe Überlebende“ hören lässt.

Eine junge Frau fasst den alten Mann am Arm, führt ihn ein Stückchen von der Gruppe weg, nickt dabei beständig. In diesen ersten Minuten wird vielen klar: Zuhören wird in diesen Tagen ihre Hauptaufgabe sein. Aber sie sind ja auch deswegen gekommen. Um die verheerenden Geschehnisse direkt an diesem Ort von eben jenen zu hören, die sie erlebt haben.

Rund 80 Jugendliche haben sich gemeldet, als die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten nach Freiwilligen suchte. Die geladenen Zeitzeugen sollten sie betreuen und deshalb möglichst Russisch oder Polnisch können. Und jung sollten sie sein. Denn einer der Schwerpunkte der Feiern, so hieß es, sei die Begegnung der Generationen. Gemeldet haben sich fast nur Studenten. Die meisten studieren Geschichte, manche haben vorher schon an Workcamps der Aktion Sühnezeichen teilgenommen, einer hat seinen Zivildienst in einer anderen Gedenkstätte absolviert. Die 21-jährige Anna ist eine der wenigen, die noch nie etwas in diese Richtung gemacht haben. Auch mit ihrem Jurastudium ist sie unter den Helfern eher eine Exotin.

Mehr als 200.000 Gefangene waren im KZ Sachsenhausen zwischen 1936 und 1945 inhaftiert. Rund 380 Überlebende haben die Einladung zu der Feier angenommen. Fast alle sind über 80. Dass die meisten der Gäste gekommen sind, um vor allem jungen Leuten ihre Geschichte zu erzählen, merkt auch Anna schnell. „Wir haben in einer Munitionsfabrik gearbeitet“, beginnt der Mann zu erzählen, den sie gefragt hat, ob sie ihm helfen kann. Er lebt er in Israel, ursprünglich kommt er aus Polen, zu Hause fühlt er sich wohl nirgendwo. Es würde immer drücken, sagt er dann, und zeigt mit zitternden Fingern auf die Kehle. Er sei heute zum ersten Mal wieder hier. Er erzählt noch einiges, vieles durcheinander. Doch „ein Viertel von 500 Gramm Brot am Tag“ ist zu verstehen und: „das waren sehr schlechte Menschen hier, den ganzen Tag geschimpft, geschlagen“. „Thank you“, sagt sein Sohn, der ihn begleitet, nickt distanziert und führt ihn weiter zur jüdischen Baracke.

Anna hat die ganze Zeit mit hoch gezogenen Augenbrauen zugehört, genickt, mit den Fingern am Ausschnitt ihres schwarzen Pullis gespielt. Es sei schon beeindruckend, wenn Zeitzeugen direkt erzählten, was ihnen passiert ist, sagt sie später. Ob sie sich schuldig fühle in solchen Momenten? „Ich? Wieso denn?“, fragt sie ehrlich überrascht. Als Deutsche? „Nein. Überhaupt nicht.“ Sie habe die Diskussionen um dieses „Sind wir noch schuldig oder nicht?“ ein bisschen satt, das hat sie schon in einem anderen Gespräch gesagt. In der Schule sei es zwangläufig immer auf diese Frage hinausgelaufen, wenn in Geschichte oder Deutsch die Nazizeit thematisiert wurde. Dabei kenne sie niemand in ihrem Alter, der tatsächlich noch persönliche Schuld empfinde.

Tatsächlich antworten viele der 20-jährigen Helfer in Sachsenhausen in diesen Tagen so. Verantwortung, die Geschichte nicht zu vergessen – natürlich. Aber Schuld – nein. „Sie geht damit um, wie mit Geschichte“, bestätigt auch Günter Morsch, der Leiter der Gedenkstätte, der dritten Generation nach dem Holocaust. Der Antrieb der jungen Helfer sei ein anderer. „Sie wollen verstehen, wozu Menschen fähig sind. Und sich bewusst gegen Rassismus positionieren.“

Auch, sagt Morsch, weil die Großeltern zu Hause nur die eigene Leidensgeschichte erzählten und die Frage nach ihrer Verantwortung oft rundheraus ablehnten. Und die Enkel sich mit deren Geschichte nicht auseinander setzten. „Meine Generation hat diese Legenden in den 70er-Jahren zerpflückt.“ Aber während Eltern für Jugendliche eine natürliche Reibungsfläche seien, sei die Güte der Großeltern nur für wenige antastbar.

Die Erzählungen in Sachsenhausen scheinen das zu bestätigen. Die Oma wohne in einem Hundert-Seelen-Dorf am Bodensee und habe zehn Kinder gehabt, sagt einer. „Das war eine andere Welt.“ Und was die Großväter als Soldaten gemacht hätten, „war wohl im Rahmen des Vertretbaren“. Ein anderer sagt, alle seine Großeltern seien vor seiner Geburt gestorben, deshalb wisse er nur wenig über sie. „Aber ins System eingebunden waren sie wohl definitiv nicht“, fügt er schnell hinzu. Er hätte das schon als „Makel“ empfunden.

Annas Oma erzählt viel vom Krieg. Von den gellenden Schreien der Soldaten, die sie als Krankenschwester behandelt hat, von fehlenden Gliedmaßen. Der Opa ist tot, der war Ingenieur und musste deshalb wohl nicht an die Front, sagt sie. Und was man gesehen hat und was nicht: „Das muss doch jeder für sich ausmachen.“ Da nachzufragen, das stehe ihr „schlicht nicht zu“.

Schuld ist nicht das Thema in Sachsenhausen. Auch nicht seitens der Überlebenden. „Sie werden eine gehörige Portion Menschlichkeit erleben, die Ihnen den Atem rauben wird“, hatte der Gedenkstättenleiter den Helfern vor Beginn in etwas schwülstigem Ton angekündigt. Doch viele der Helfer geben am Ende des Tages zu, dass er Recht hatte.

Irgendwann auf ihrem Rundgang trifft Anna auf einen Ukrainer, der in einem Rollstuhl über das Gelände gefahren wird. Er hat seine Häftlingskleidung an, „weil er zeigen will, dass es wirklich stimmt“, sagt seine Übersetzerin. Gern will er sich fotografieren lassen, „mit so einer schönen Frau“, sagt er, lächelt ein breites Lächeln, wirft Anna Kusshändchen zu.

Seit Anfang April ist Petro Mischuk in Deutschland, erzählt seine Dolmetscherin. Um alle Konzentrationslager zu besuchen, in denen er eingesessen hat. Je ein Plastikbutton von Dora und einer von Buchenwald hängen schon an seiner linken Brust. Und jetzt hier in Sachsenhausen. Kurz zuvor waren sie an der „Station Z“, der ehemaligen Erschießungsanlage, die neu gestaltet wurde und eigentlich erst am nächsten Tag mit der offiziellen Gedenkfeier eröffnet werden soll, erzählt ein Helfer, der ihn dorthin begleitet hat. „Er hat einfach den Bauzaun beiseite gestellt und ist reingegangen. Und wir haben ihn gelassen.“ Fotos habe Mischuk dort gemacht, eine gelbe Rose abgelegt und seinen Namen mit einem Filzstift ganz klein an eine Wand geschrieben. „Er hat sie inoffiziell eingeweiht“, sagt der Helfer, „und ich bin froh drum.“ Weil Petro Mischuk schon einmal dort war vor über 60 Jahren. Fünf andere wurden neben ihm erschossen, er musste die Leichen wegräumen.

Von dieser Geschichte weiß Anna nur einen Bruchteil, als sie mit Petro Mischuk und seine Dolmetscherin zusammen ist. Aber als sie nachher gefragt wird, welches das beeindruckendste Erlebnis war, nennt sie die Begegnung mit ihm. Irgendwo auf ihrem Weg wurde er plötzlich unruhig und zeigte auf einen entgegenkommenden Rollstuhlfahrer. Jeder redete in seiner eigenen Sprache, einer Ukrainisch, einer Französisch. Minutenlang schüttelten sie sich die Hände, verlangten dann ein Foto nach dem anderen. Streckten dabei die Hände in die Höhe. Und wollten zum Schluss auch ein Gruppenfoto mit Anna und den anderen Helfern.