DIE DENTISTIN: Folgetermine
Es ist ein Montagmorgen, ich bewege mich durch den Nieselregen zur Zahnarztpraxis. Kurz darauf liege ich als Opfer unter einer Deckenmalerei; unter einem Bild, Farbe auf Leinwand, das an die Decke gehängt wurde zur Belustigung und Beruhigung der PatientInnen; eine Unterwasserwelt mit Fischen, Tentakeln, Tauchern.
Die Zahnärztin trägt nicht nur eine Schutzbrille und ein weißes Polohemd, sondern auch zwei optische Gläser, als ob es darum ginge, Diamanten zu schleifen. Jeden Morgen packt sie ihre weißen Polohemden in eine Sporttasche. Der Patient auf dem Altar fragt sich, warum ÄrztInnen so oft Weiß tragen, wahrscheinlich, damit man das Blut besser sieht, das auch diesmal wieder reichlich fließt, trotz der fleißigen Schläuche, die alles Leben absaugen, trieft es die Mundwinkel hinaus, spritzt es auf das Polohemd, klebt es an den Schutzhandschuhen, und die Dentistin mit dem Kinderhörspielkassettennamen rückt ihre Okulare zurecht, die für sie leider nur „Lupe“ heißen, und sagt, bitte schauen Sie jetzt einmal geradeaus.
Der Patient gehorcht und fragt sich, ob er zu sehr versucht hat, ihr in die Augen zu sehen. Also, bevor sie das Okular aufzog. Der Patient schaut wieder nach oben, die Unterwasserwelt, Ursula, die Meerjungfrau, die die ganze Praxis verschluckt. Ich sollte blutrünstige Kinderbücher schreiben.
Die Instrumente haben unterschiedliche Farben, während die Dentistin mit der Assistentin Fachausdrücke austauscht. Draußen fällt weiter unbeeindruckt der Regen. Irgendwann ist das Gemetzel vorbei, die Dentistin streckt ihre Hand aus zum Abschied, aber es gibt Folgetermine, immer gibt es Folgetermine.
Auf dem Weg zurück geht es an einer Baustelle vorbei, wo Männer ähnliche Geräusche veranstalten wie vorher die Zahnärztin: Operationen im Großen, weit weniger schmerzhaft.
RENÉ HAMANN
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