Wenn der Heilige Geist wählt

VON PHILIPP GESSLER

„Der Heilige Geist sprach zu uns durch Mathematik“ – so hat wenig später ein natürlich anonym gebliebener Kardinal beschrieben, was beim letzten Konklave passierte. Das war vor knapp 27 Jahren. Und nur noch 2 der 115 purpurroten Papstwähler, die heute in der Sixtinischen Kapelle zur Wahl des Oberhaupts von etwa 1,1 Milliarden Katholiken antreten, wissen noch, wie das war, weil sie es selbst erlebt haben. Dabei waren der US-Kardinal William W. Baum und – ausgerechnet – der Deutsche Joseph Ratzinger. Er leitet nun das Konklave.

Alle anderen Kardinäle hat der verstorbene Johannes Paul II. selbst ernannt – womit zwei wichtige Vorbedingungen für das Geschehen im Konklave vorgegeben sind: Zum einen sind liberale Reformer darin mit der Lupe zu suchen. Zum anderen kennen die meisten Kardinäle einander kaum. Mehr als zwei Dutzend wurden erst vor anderthalb Jahren vom Papst ernannt, „kreiert“, wie es so schön heißt. Das wird die Abstimmungen im Konklave mühsam machen. Obwohl der Papst das Vorgehen unter Michelangelos Weltgericht erst 1996 penibelst vorgeschrieben hat, bis hin zum Aussehen der Wahlzettel, die man zweimal zu falten habe.

Diskrete Fraktionen

Muss man sich in Zeiten des Internets, Satellitenfernsehens und einfachster interkontinentaler Telefonverbindungen wirklich noch persönlich treffen? Vermutlich schon, denn für den Job wollen die Kardinäle sicherlich jemanden wählen, von dem sie zumindest einen kurzen persönlichen Eindruck gewinnen konnten. Deshalb sind die informellen Treffen – nach Gottesdiensten, in Pizzerias – im Vorfeld des Konklaves so wichtig. Und dass die meisten Kardinäle nun schon seit über einer Woche zu offiziellen Vorbereitungstreffen in Rom versammelt sind, mit einem Schweigegelübde bereits jetzt bedacht, könnte auch für ein schnelles Konklave sprechen.

Allerdings nur dann, wenn sich die Kardinäle schon vor Beginn des Konklaves gut informiert haben über die Stärken und Schwächen möglicher Kandidaten, prioritär zu lösende Probleme in der Kirche – und wo die Fronten zwischen den verschiedenen Wahlblöcken verlaufen. Denn natürlich wird es Fraktionen geben. Das Problem ist nur: Es gibt für sie keine offen auftretenden Fraktionsführer, was die Sache umso schwieriger macht. Wie kann man sich da behelfen?

Der Soziologe und Geistliche Andrew Greeley, der die Papstwahlen des Jahres 1978 in einem faszinierenden Buch rekonstruiert hat, schreibt zur feinen Art purpurroter Fraktionsbildung: „Man manipuliert die Atmosphäre und die Umwelt durch Hinweise und gelegentliche Bemerkungen, die man hier und da fallen lässt – eher als durch offene und direkte politische Manöver.“ Natürlich seien die Prozesse im Konklave denen jeder Wahl ähnlich. „Es gibt Blöcke, es gibt Strategien, es gibt Einpeitscher, aber ihr Stil ist notwendigerweise delikat, höflich, indirekt.“ Hundertprozentige Loyalitäten gibt es nicht. Die Wahl ist geheim, auch Probeabstimmungen sind verboten.

Der neue Papst braucht 77 Stimmen, das heißt eine Zweidrittelmehrheit plus eine Stimme – damit seine eigene Stimme nicht entscheidend war. Sollte es nach dem 30. Wahlgang keinen Gewinner geben, können die Kardinäle entscheiden, dass eine absolute Mehrheit reicht. Wie könnten jetzt die Fraktionen aussehen, die nach diesem Modus wählen, nach welchen Kriterien könnten sie sich bilden?

Gerade weil sich die Kardinäle nicht besonders gut kennen, wird gemutmaßt, dass bei der Papstauswahl Länder-, Sprach- und Kontinentgrenzen wichtig sein könnten – wie schon immer in den vergangenen Konklaven. Lange Zeit wurde im Vorfeld des Konklaves deshalb darüber spekuliert, es könnte ein iberisch-amerikanischer Block gegen einen europäischen stehen: Auf der einen Seite also die 20 Italiener mit den 38 Rest-Europäern gegen die 21 Lateinamerikaner, wo fast die Hälfte der Katholiken leben. Zu den Latinos könnten noch die Kardinäle aus Asien, Ozeanien und Afrika stoßen.

Aber wohin tendieren die 14 Nordamerikaner? Wären sie beim Nordblock, dem sie aufgrund ähnlicher Probleme nahe stehen, hätte es der europäische Block fast geschafft. Nur: Weder die Europäer noch die Nordamerikaner sind einer Meinung über die Hauptprobleme der Kirche, die richtigen Lösungen und den besten Mann, sie anzupacken. Außerdem ist es fast ein Allgemeinplatz, dass man den Süden des Globus und Asien einbinden muss, wo derzeit in der Weltkirche die Musik spielt. Also doch ein Lateinamerikaner oder Afrikaner?

Möglich auch, dass sich die Blöcke formieren nach dem Alterskriterium: Ein älterer Papst wird bevorzugt, weil der verstorbene nach dem Empfinden vieler allzu lange regiert hat – auch dieser Wechsel Alt/Jung ist eine kluge Tradition in der römisch-katholischen Kirche, eine uralte zudem. Andererseits gibt es das Verlangen, nach dem in den vergangenen Jahren so gebrechlichen Johannes Paul II. und dem Schauspiel jugendlichen Überschwangs bei dessen Beerdigung wieder einen gesunden, vitalen Mann zu haben, der die Dynamik und Jugendlichkeit der Kirche, vor allem im Süden der Welt, verkörpert. Es sind allerdings gerade einmal 16 Kardinäle jünger als 65, da ist die Auswahl nicht wirklich groß.

Typ Hirte oder Showtalent

Wahrscheinlicher ist, dass sich Blöcke bilden anhand der Frage: Wollen wir eher jemanden haben, der nach innen, in die Kirche hinein, wirkt, also gern einen eher stillen, frommen, seelsorgerisch und verwaltungstechnisch begabten Oberhirten? Oder ist wieder ein eher extrovertierter Kommunikator und Weltpolitiker nötig wie Wojtyła, der zwar der Kirche Weltgeltung verlieh wie kaum ein Papst zuvor, die Aktenarbeit aber floh und auch deshalb viel unerledigte Reformarbeit innerhalb der Kirche hinterließ? Da kaum jemand die großen Stiefel von Johannes Paul II. wird ausfüllen können, könnte ein Verwalter mit Erfahrung in der Kurie, der Regierungszentrale des Vatikans, verlockender sein als ein Charismatiker auf dem Papstthron.

Eine solche Jobbeschreibung erhöht zwar die Möglichkeit eines bisher nicht genannten Nobody im Konklave – wie damals Wojtyła, den niemand auf der Rechnung hatte. Andererseits braucht die Kirche jemanden, der gerade angesichts des Problems eines aufblühenden radikalen Islams und der religiösen Wachstumsmärkte in spe, China und Indien, weltgewandt nach außen wirken kann. Gerade ein Islamkenner wäre deshalb besonders attraktiv. Aber von denen gibt es im Konklave nicht viele. Mr. Right ist eben auch in der Kirche schwer zu finden.

Am wahrscheinlichsten ist jedoch, zumindest am Anfang des Konklaves, eine Blockbildung anhand der Frage, welche Person man an der Spitze sehen will. Und da hat Ratzinger, folgt man den zumeist gut informierten italienischen Zeitungen mit ihren Dutzenden von Konklave-Rechercheuren, die Nase vorn. Bereits 40 bis 50 Stimmen soll er im Vorfeld des Konklaves unter den Kardinälen für sich gesammelt haben. Aber: Ratzinger hat sich als langjähriger Leiter der Glaubenskongregation auch sehr viele Feinde gemacht.

Unter seiner ideologischen Knute litten fast alle fortschrittlicheren Theologen und Bischöfe weltweit, der Schweizer Theologe Hans Küng und der französische Bischof Jacques Gaillot sind da prominente Beispiele. Kein Zufall, dass Ratzinger seine größten Gegner, natürlich unausgesprochen, unter seinen Landsleuten im Konklave hat. Er habe keine Menschenkenntnis und keinen Realitätssinn, lästerte einer mal unter der Hand, fast hasserfüllt.

Stunde der Unbekannten

Ein Kandidat Ratzinger wird also auch seine Gegner mobilisieren und zusammenschweißen. Ein konservativer, römisch und zentralistisch orientierter Ratzinger-Block gegen eine eher liberal und innerkirchlich demokratisch gesonnene, der „Kollegialität der Bischöfe“ verschriebene Anti-Ratzinger-Fraktion – das könnte die Ausgangsposition zu Beginn des Konklaves sein. Der charismatische, liberale, intellektuelle Italiener Carlo Maria Martini (78), vielleicht zusammen mit den Deutschen Karl Lehmann und Walter Kasper, könnte die Anti-Ratzinger-Männer organisieren. Aber haben sie wirklich jemanden, den sie gegen ihn ins Feld führen können? Martini will offenbar nicht ganz oben aufs Treppchen.

Vatikan-Beobachter meinen, Ratzinger sei in den vergangenen Jahren stark gealtert – außerdem kündigte er schon länger an, er wolle eigentlich lieber in den Ruhestand treten und noch ein paar Bücher schreiben. Insofern klingen die Meldungen nicht unwahrscheinlich, er stünde nur dann in späteren Wahlgängen des Konklaves als Papstkandidat bereit, wenn er schon auf Anhieb beim ersten Auszählen eine hohe Stimmenzahl erhalte. Ratzinger kann auf die Stimmen der vielleicht zwei Dutzend Kardinäle zählen, die der reaktionären Fast-Geheimorganisation „Opus Dei“ nahe stehen. Auch ein Großteil der Italiener sehen Ratzinger als passenden Übergangskandidaten, von dem keine großen Überraschungen zu erwarten sind. Das ist seine Chance.

Wird Ratzinger jedoch erst einmal blockiert, etwa durch Martini als Zählkandidaten der Progressiven, könnte die Zeit der Kompromissfiguren schlagen – wie schon 1978: Fortschrittlichere Kardinäle wie Franz König aus Wien konnten so ihren Konsenskandidaten Wojtyła durchsetzen, den sie für einigermaßen progressiv hielten … So kann man sich täuschen.

Auch heute werden einige Kardinäle als interessante Kompromisskandidaten bei einem Patt im Konklave gehandelt:

1. der Mailänder Dionigi Tettamanzi. Er ist leutseliger Italiener – ein Plus –, zudem ein Freund des „Opus Dei“, gilt dennoch als einigermaßen „links“, weil er beispielsweise die Globalisierung kritisiert hat. Außerdem hat er mit 71 Jahren das richtige Alter, nicht zu alt, nicht zu jung. Sein großer Nachteil: Er spricht kaum Englisch.

2. der Brasilianer Claudio Hummes (70). Der charismatische Franziskaner würde den Aufbruch der Kirche in der Dritten Welt symbolisieren. Er ist ein profilierter Vertreter einer Kirche auf der Seite der Armen. Gleichzeitig ist er aber, etwa in Sachen Sexuallehre, moraltheologisch konservativ.

3. der Nigerianer Francis Arinze (72). Er stammt aus einem Kontinent, wo die Kirche boomt, hätte ebenfalls den Dritte-Welt-Bonus und gilt als Islamexperte. Der Konservative ist vielen Kardinälen wegen seiner Arbeit in neun Dikasterien (Ministerien) der Kurie und seinem Sitz im Generalsekretariat der Bischofssynode in Rom vertraut. Dass er schwarzer Hautfarbe ist, dürfte kein größerer Hinderungsgrund sein. Allerdings gilt er theologisch als nicht sehr profund.

Nicht unwahrscheinlich aber auch, dass noch jemand ganz anderes wie Kai aus der Kiste gezogen wird – je länger das Konklave dauert, umso wahrscheinlicher ist diese Wendung. Wie 1978 bei Wojtyła, der sich damals klug zurückhielt. Der polnische Kandidat soll die meiste Zeit des Konklaves damit beschäftigt gewesen sein, ein marxistisches Journal zu lesen, bevor er vor allen Kardinälen in Tränen ausbrach, als die Wahl auf ihn fiel. Große Angst habe er vor dem Amt gehabt, erklärte Johannes Paul II. später. Angenommen hat er die Wahl dennoch.