Spenraths Wahl ist längst vorbei

Es ist ruhig geworden im rheinischen Braunkohlerevier. Denn entschieden wurde gestern. Nun bringen die Menschen ihr „Opfer für die Allgemeinheit“

AUS OTZENRATH UND SPENRATHKLAUS JANSEN

Am Rand des Lochs steht eine Frittenbude. Es gibt Hot Dogs zu einem Euro fünfzig, das Geschäft lohnt sich. Auf dem Parkplatz hält eine Limousine mit dem Kennzeichen FDS, Freudenstadt, im Schwarzwald. Ein Mann, Mitte fünfzig, steigt aus und tritt an die Abbruchkante. Er betrachtet die Bagger, die braunen, schwarzen und grauen Schichten auf dem Grund. Die gelben Bagger schrumpfen auf die Größe von Spielzeugautos. „Wo ich schon einmal in der Gegend bin, muss ich mir das angucken“, sagt der Mann. Und: „Das ist Wahnsinn. Bei uns in Baden-Württemberg würde es das nicht geben.“ Dann fährt er wieder weg.

Zurück am Loch bleibt Margarethe Mehl und schaut dem Wagen hinterher. Sie ist eine der letzten Bewohnerinnen von Alt-Spenrath, gut zwei Kilometer entfernt. Später wird sie von „Katastrophentourismus“ sprechen, den der Tagebau Garzweiler anlockt.Garzweiler. Nichts hat die rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen in ihren Anfangsjahren so sehr beschäftigt. Kaum ein Thema hat die beiden Partner bei den vergangenen beiden Landtagswahlkämpfen so umgetrieben wie die Vergrößerung dieses Lochs im rheinischen Braunkohlerevier. Am 22. Mai wird wieder ein neuer Landtag gewählt. Doch dieses Mal ist alles anders: Garzweiler ist Touristen-Attraktion, kein Politikum.

Wenn die grüne NRW-Umweltministerin Bärbel Höhn über Garzweiler II spricht, bemüht sie die Vergangenheitsform. „Die Zustimmung ist damals sehr schwer gefallen“, sagt sie. Ob es die größte Niederlage der Grünen in der Landesregierung war? Nein, das möchte Höhn dann doch nicht so sagen: „Wir haben in diesem Punkt unsere Ziele leider nicht vollständig durchsetzen können.“ Und dass das „schon hart“ gewesen sei. Aber Höhn sieht noch Hoffnung: „Ich glaube noch immer nicht, dass Garzweiler II vollständig kommen wird.“Das Elternhaus von Margarethe Mehl versteckt sich hinter grünen Ranken. Es ist über hundert Jahre alt, die Eingangstür leuchtet rot. Margarethe Mehl sitzt in ihrem Garten. Die 62-Jährige hat eine graue Igelfrisur, die Augen und die Lippen sind geschminkt. Auf dem Tisch vor ihr stehen zwei Figuren: Ein Buddha und ein Engel. Im November wird Margarethe Mehl umziehen, als eine der letzten in ihrem Dorf. 2006 wird Spenrath weggebaggert. RWE, früher Rheinbraun, nimmt den Ort in Anspruch. „Niedergemacht“, ist das Wort, das Margarethe Mehl gebraucht. Bis dahin will sie „noch einen Sommer genießen“, sagt sie. In ihrem Garten wuchert Grün, an einem Baum klingelt ein Windspiel. „Meine Oase“, sagt Mehl.

Margarethe Mehl ist Grüne. Sie hat über Jahre an der Spitze des Widerstands gegen den Braunkohletagebau Garzweiler II gestanden. Parallel dazu hat sie unter den Sozialdemokraten Johannes Rau und Wolfgang Clement in der Düsseldorfer Staatskanzlei gearbeitet, auch im Umweltministerium unter Bärbel Höhn, Bereich Entwicklungshilfe. „Doppelt verknüpft“ ist sie mit dem Tagebau, sagt sie. Über ihre ehemalige Chefin möchte sie nur ungern sprechen. Dass die Grünen vor Jahren der wasserrechtlichen Genehmigung und auch damit faktisch dem Tagebau zugestimmt haben? „Man hätte ihn nicht verhindern können“, sagt sie. SPD, CDU, FDP, die Befürworter seien zu zahlreich gewesen. „Es hätte nichts gebracht, die Koalition damals platzen zu lassen.“ Doch man hört im Dorf auch andere Stimmen. Stimmen, die daran erinnern, was Bärbel Höhn vor einigen Jahren in der Turnhalle im Nachbardorf Otzenrath gesagt hat: Dass sie noch in fünfzig Jahren wiederkommen werde. Die Ministerin wird Otzenrath dann vergeblich suchen.Im Erkelenzer Rathaus sitzt Bürgermeister Peter Jansen in seinem Arbeitszimmer. Der Christdemokrat ist erst im Oktober gewählt worden, er ist ein schnauzbärtiger Mann, der langsam und kontrolliert spricht. Erkelenz wird durch Garzweiler II ein Drittel seines Stadtgebietes verlieren. Ob Erkelenz deshalb eine reiche Stadt sein werde? „Nein. Die Großunternehmen zahlen doch kaum noch Steuern“, sagt er. Dass das an Rot-Grün liege, will er nur am Rande einfließen lassen – schließlich wolle er keinen Wahlkampf machen.

An der Wand von Jansens Büro hängt eine große Karte, darauf sind schwarze Linien eingezeichnet. Hans-Heiner Gotzen, der erste Beigeordnete der Stadt, schwingt mit seinem Arm in immer größeren Radien über die Karte. „So wird der Bagger gehen“, sagt er. Pesch 2009, Borschemisch 2015, Lützerath und Immerath auch. Wo jetzt die Dörfer sind, wird ein 45 Quadratkilometer großer Restsee bleiben, wenn die Bagger weg sind. Im Jahr 2085 wird der See fertig sein – es sei denn, es findet sich ein Anschlusstagebau, mit dessen Abraum das Loch in Erkelenz gefüllt werden könnte.

„Garzweiler ist ein Thema der Region geworden“, sagt Bürgermeister Jansen. Im Wahlkampf spiele es keine große Rolle – schließlich seien vor Ort fast alle dagegen, in der Landespolitik aber fast alle dafür. Keine Partei könne mehr großartig punkten. Die Erkelenzer CDU hat gegen Garzweiler II geklagt, erfolglos. Gleichzeitig moderiert sie die Umsiedlung – eine Doppelstrategie. „Das ist schwierig zu erklären“, sagt er. Aber man müsse sich klar machen, dass der Tagebau nicht zu verhindern sei. Und auch wenn er keinen Wahlkampf machen möchte, so möchte er doch kritisieren, dass die Grünen mit dem Thema Wahlkampf machten: „Wenn Frau Höhn sagt, dass der Tagebau vielleicht doch nicht ganz komme, macht man den Leuten falsche Hoffnungen. Das darf man ihnen nicht antun.“ Er erkläre es den Bürgern so, sagt Jansen: „Man bringt ein Opfer für die Allgemeinheit.“„Ich denke nicht an die Allgemeinheit, sondern daran, dass ich RWE helfe, Gewinne zu maximieren“, sagt Margarethe Mehl. In ihrem Garten streunen Katzen umher, die von Dorfbewohnern zurück gelassen worden sind. Nachts sei sie oft unruhig, obwohl sie kein ängstlicher Mensch sei, sagt Margarethe Mehl. „Auf einmal steht dann jemand im Garten.“ Es käme häufig zu Plünderungen, in Otzenrath sei nachts fast immer die Polizei. Der von RWE eigens abgestellte Security-Dienst sei überfordert. „Man hört jedes Geräusch.“ Es sind auch Umsiedlungs-Geschichten wie diese, die Garzweiler zum Politikum gemacht haben. Weil es schwer zu erklären ist, dass Kirchen abgerissen und Tote umgebettet werden müssen. Dass Knochen vergessen werden, wenn man die Toten ausgräbt.

Alt-Otzenrath ist ein Geisterdorf mit zerschlagenen Fensterscheiben und Schlaglochstraßen. Doch vor der Kirche spielen Kinder. Und auch eine Bäckerei hat noch auf. Die Bäckerin ist eine gebückte alte Frau mit dicken Brillengläsern. Ob noch viel Kundschaft komme? „Och ja, manche auch aus dem neuen Dorf“, sagt sie. In dem neuen Dorf lässt nun auch Margarethe Mehl ihr neues Haus bauen. Es ist ein Eckgrundstück, aus dem Wohnzimmer wird sie einen freien Blick auf die Felder in der Umgebung haben. Neben dem Rohbau ihres Hauses sind die anderen Neubauten bereits fertig. Es sind Einfamilienhäuser, manche mit roten, manche mit weißen Klinkern. Auch einen neuen Marktplatz gibt es, sogar ein Café. Finanziell leiden die Umsiedler nicht. „Ich kann verstehen, dass RWE hier Busse durchschickt, um zu zeigen, wie gut wir entschädigt wurden“, sagt Margarethe Mehl. Wie viel sie bekommen hat, möchte sie nicht sagen, auch RWE veröffentlicht keine Zahlen. Es wird schon gehen. „Das braucht alles Zeit“, sagt sie. „Wenn erst einmal die Bäume gewachsen sind, kann das hier schon schön werden.“

Margarethe Mehl hat sich arrangiert. Die Argumente gegen den Tagebau kann sie noch immer herunterbeten – energiepolitisch unsinnig, die Gesundheitsgefährdung durch Feinstaub, die Krebsfälle in der Region – doch sie weiß, dass die Auseinandersetzung beendet ist. Der Weg führt vorbei an einer Wiese, auf die der Bund für Umwelt und Naturschutz ein paar einsame Apfelbäume gepflanzt hat. Dort wachsen der Danziger Kantapfel, die Rheinische Schafsnase und roter Boskoop. Die Bäume sind ein letztes Zeichen des Widerstands, nur hundert Meter entfernt von der Abbruchkante.

Margarethe Mehl hat eine Patenschaft für einen der Bäume übernommen: „Vielleicht muss RWE alle Besitzer einzeln enteignen“, sagt sie und lacht. Kurz darauf wird sie wieder ernst: „Wir Grüne haben den Leuten vor Ort wahrscheinlich zu lange Hoffnungen gemacht.“