Auf Augenhöhe mit Vierfüßlern

TIERRECHTSBEWEGUNG Von Tolstoi zu Karen Duve, ihre Vorläufer in der Literatur sind zahlreich: Human-Animal Studies klären das Verhältnis von Mensch zu Tier neu. In Berlin wollen ihre Vertreter handeln und debattieren

Grundanliegen ist es, den Objektcharakter von Tieren zu charakterisieren

VON ANDREAS HARTMANN

„Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben“, behauptete Leo Tolstoi. Und Mahatma Gandhi wird diese Erkenntnis zugeschrieben: „Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt.“

Es gibt Hunderte solcher Kalendersprüche, die belegen, dass sich die Menschen schon seit Hunderten von Jahren mit ihrem Verhältnis zu den Tieren beschäftigen. Intensiv und lange genug, um aus dieser Beschäftigung endlich eine angemessene Wissenschaft zu machen. Das haben sich die Vertreter der sogenannten Human-Animal Studies wohl gedacht, als sie damit begonnen haben, Fragen rund um das Mensch-Tier-Verhältnis zu akademisieren. Im angloamerikanischen Raum sind die Human-Animal Studies sozusagen die neuen Gender Studies. Eine als hip angesehene, junge und interdisziplinäre Forschungsrichtung, deren schon allein quantitativ massiv angestiegene Zahl an Fachpublikationen in letzter Zeit ihre steigende Relevanz belegt.

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Jetzt, mit der üblichen Verspätung, schwappen die Human-Animal Studies auch in den deutschsprachigen Raum. Seit Kurzem gibt es die an die Uni Hamburg angeschlossene Group for Society and Animal Studies, an der Uni Wien haben sich in der Fakultät der Philosophie die Critical Animal Studies etabliert, und seit Anfang dieses Jahres erscheint mit Tierstudien die erste deutschsprachige Zeitschrift für Animal Studies.

Die Berliner Gruppe Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies hat eben den ersten Sammelband zu den Human-Animal Studies herausgegeben, der wissenschaftliche Texte „über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen“ beinhaltet. Chimaira ist neben den Hamburgern der umtriebigste Zusammenschluss von Soziologen, Politikwissenschaftlern, Philosophen und Pädagogen, der mit Aktionen und Publikationen die Etablierung der Human-Animal Studies in Deutschland vorantreibt. Er betreibt eine ambitionierte Website, bietet seit Kurzem in Räumlichkeiten der Humboldt-Universität zweiwöchentlich Kolloquien für Interessierte an und versucht, den universitären Betrieb für seine Belange zu öffnen.

Wo trifft man sich nun am besten mit Mitgliedern des Chimaira-Arbeitskreises, um mehr über die Human-Animal Studies zu erfahren? Natürlich in einem veganen Café, im Vux in Neukölln, wo am Eingang darauf hingewiesen wird, dass Pelzträger, die sich hierhin verirrt haben sollten, nicht willkommen sind.

Swetlana Hildebrandt und Markus Kurth sind natürlich Veganer, Kurth ist nebenbei in der Tierbefreiungsbewegung aktiv. Wer sich für Human-Animal Studies interessiert, das machen die beiden deutlich, ist nicht bloß Theoretiker, sondern auch Aktivist. Ihr Grundanliegen ist es, den Objektcharakter der Tiere zu dekonstruieren, sie nicht mehr als „das Andere“, als dem Menschen untergeordnete Lebewesen zu definieren. Wer gegen die Verdinglichung und die industrielle Tötung der Tiere anschreibt, wer die Grenzen zwischen Mensch und Tier diskursiv aufbrechen will, der kann wohl auch nur schwer ein Schweineschnitzel in die Pfanne hauen, ohne sich dabei wie ein Lügner vorzukommen.

Der Gedanke, die Gesellschaft verändern zu wollen, ist so sehr Teil der Human-Animal Studies, dass es inzwischen sogar eine Abspaltung gibt, die sogenannten Critical Animal Studies, klärt Swetlana Hildebrandt auf. Vertreter dieser Gruppierung werfen den Human-Animal Studies – grob gesagt – vor, zu sehr ein elitärer Debattierklub und zu wenig politisch zu sein, zu viel zu reden, anstatt auch mal wirklich Hühner aus einer Hühnerfarm zu befreien. Doch diesen aus dem angloamerikanischen Raum kommenden Konflikt wollte Chimaira für ihre Grundlagenarbeit im deutschsprachigen Raum nicht übernehmen, erklären Hildebrandt und Kurth.

Denn auch so ist schon kompliziert genug, was Chimaira in ihrem Human-Animal-Studies-Reader auffährt. Mithilfe eines poststrukturalistischen Instrumentariums, mit Theorien von Derrida über Foucault bis Donna Haraway, werden Begriffe wie Natur oder Kultur dekonstruiert, Begrifflichkeiten aus den Gender Studies werden von den unterdrückten Frauen auf die unterdrückten Tiere übertragen. So, wie die Verwendung des Binnen-I dazu dienen soll, Frauen schon rein sprachlich sichtbarer zu machen, fordert Chimaira eine das Tier aufwertende Sprache. „Tierisch“ wird etwa als das Tier negativierend begriffen und durch „tierlich“ ersetzt. Vor allem aber gibt es keine „Menschen“ und keine „Tiere“ mehr, sondern die Lebewesen sollen sich auf Augenhöhe begegnen, weswegen nur noch von „menschliche Tieren“ und „nichtmenschlichen Tieren“ die Rede ist.

Karen Duve und Jonathan Safran Foer haben mit ihren Bestsellern über die Kritik am Fleischkonsum populärwissenschaftliche Vorarbeit geleistet. Die Human-Animal Studies aber wollen mehr als die Aufforderung: Iss doch mal weniger Fleisch! Für ihre Vertreter gehört jeder Aspekt unseres Umgangs mit Tieren auf den Prüfstand. Haustierkult, Tierversuche, Pelzindustrie, alles muss neu gedacht werden. Leicht will man es sich dabei nicht einmal selbst machen. Auch die eigene Szene wird kritisiert, wie etwa der Aufsatz von Andrea Heubach im Chimaira-Reader über zweifelhafte Publicity-Methoden der Tierrechtsorganisation Peta deutlich macht. Deren „Lieber nackt als im Pelz“-Aktion, bei der viel nackte Frauenhaut eine Rolle spielt, wird mit dem Sexismusvorwurf konfrontiert, und Mieke Roscher unternimmt in ihrem Essay eine Bildkritik von Fotos aus der Tierrechtsbewegung. Tierbefreier halten gern ihre aus Laboren befreiten Tiere in den Händen und lassen ihre heroische Tat mit einem Fotobeweis festhalten, was für Roscher das Ausgeliefertsein der Tiere eigentlich bloß unterstreiche.

Wie aber sollen wir „menschliche Tiere“ uns angemessener gegenüber den „nichtmenschlichen Tieren“ verhalten? Das Nachdenken darüber scheint gerade erst begonnen zu haben.

■ Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): „Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen“. Transcript Verlag, Bielefeld 2011, 424 Seiten, 24,80 Euro