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Chemiker der Vernichtung

Vor siebzig Jahren wurden in Berlin-Wannsee die organisatorischen Grundlagen für die Vernichtung der Menschen festgelegt, die die Nazis als Jüdinnen und Juden und deshalb minderwertig definierten. Begonnen hat die erste fabrikmäßige, organisierte Ermordung von Menschen in der Geschichte 1940 in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Das Gas hat ein Stuttgarter besorgt, Albert Widmann. Später lebte er im Stuttgarter Stadtteil Stammheim – nicht im Gefängnis, sondern In den Weinbergen 28. Seine Nachkriegskarriere begann bei der Lackfabrik Votteler in Münchingen bei Stuttgart

von Hermann G. Abmayr

Gehen Sie doch zur evangelischen Mädchenschar wie meine Töchter“, sagt Ellen Breitlings neuer Chef, ein Mann mit breiter Stirn und akkurat gekämmtem Haar, an einem Frühjahrstag 1958. Die 21-jährige Sekretärin und Naturfreundin traut sich nicht, Albert Widmann zu widersprechen. Der Chefchemiker, der in weißem Arbeitskittel vor ihr steht, setzt sein Diktat fort, ein neues Lackrezept. Dass Widmann Jahre zuvor auch mit Menschen Versuche gemacht hat, kann Ellen Breitling nicht wissen.

Albert Widmann tritt gerne in dunklem Anzug, weißem Hemd und Fliege auf und genießt im Stadtteil Stammheim hohen Respekt. Ob in der Bank beim Metzger oder vor der Kirche, überall heißt es „Grüß Gott, Herr Doktor Widmann“. Und sonntags besucht der Chemiker zusammen mit seiner Frau Martha und den 16 und 18 Jahre alten Töchtern den Gottesdienst in der evangelischen Johanneskirche. Plötzlich, so erinnert sich Breitling, war Widmann verschwunden. Niemand wusste, warum. Erst 1960 oder 1961 habe sie erfahren, dass ihr Chef im Gefängnis sitzen soll. Er sei, so das Gerücht, an der Tötung von Menschen im Dritten Reich beteiligt gewesen. Die Leute hätten Giftspritzen bekommen.

1963 taucht Albert Widmann wieder an seinem Wohnort in Stuttgart auf. Noch immer haben nur wenige Stammheimer eine Ahnung davon, was er während der NS-Zeit tatsächlich getrieben hat. Der Chemiker arbeitet jetzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lesonalwerk in Stuttgart-Feuerbach. Und er meldet sich regelmäßig bei der Polizei. Sein Haftbefehl war gegen eine Sicherheitsleistung in Höhe von 200.000 Mark in Grundschulden außer Kraft gesetzt, sein Reisepass eingezogen worden.

Albert Widmann hatte mit seiner Familie bis kurz vor Kriegsende in Berlin gelebt. Über Österreich ging es dann zu Fuß nach Stuttgart, wo der Sohn eines Lokomotivführers 1912 geboren und aufgewachsen war. Amerikanische Militärs internieren ihn im Juli 1945, doch sie wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben. So entlassen sie den 33-Jährigen nach wenigen Tagen ohne Angabe von Gründen, bieten ihm sogar einen Job an. Widmann lehnt dankend ab. Er zieht mit seiner Familie zunächst nach Münchingen bei Stuttgart. Hier beginnt seine Nachkriegskarriere mit einer schwerwiegenden Lüge. Widmann verschweigt im Entnazifizierungsverfahren der zuständigen Spruchkammer Leonberg seine SS-Mitgliedschaft. Der SS-Sturmbannführer war erst 1939 der Terrororganisation beigetreten und schon nach vier Jahren im Range eines Majors Mitglied des SS-Führungskorps. Auch verschweigt der Chemiker seinen eigentlichen Arbeitgeber während der NS-Zeit, das Kriminaltechnische Institut (KTI), das seit 1939 zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA) gehörte. Das KTI verfügte über Fachleute für alle Arten der biologischen und chemischen Kriegsführung. Es war aus der Abteilung für gerichtliche Chemie und Kriminaltechnik der Chemischen Landesanstalt Stuttgart hervorgegangen.

Albert Widmann war zwar von einem Freund ausdrücklich gewarnt worden, der sagte, bei der Polizei sei auch nicht mehr alles so, wie es früher einmal war. Doch der Stuttgarter sah in Berlin seine Lebensaufgabe und fiel von Anfang an durch Fleiß, Einsatzbereitschaft und Fachkompetenz auf. Er war zuletzt Referatsleiter Chemie und Biologie und verbeamteter Regierungsrat. All das unterschlägt Widmann vor der Leonberger Spruchkammer, die zwar Ermittlungen über ihn angestellt, doch nichts Nachteiliges gefunden haben will. Widmann selbst hatte angegeben, Mitglied der NSDAP (seit 1. Mai 1937), der Nationalsozialistischen Studentenvereinigung, des NS-Bundes Deutscher Techniker und des NS-Kraftfahrer-Korps gewesen zu sein. Ansonsten hatte die Kammer keine „politische Belastung“ gefunden. Sie stuft Widmann in die Gruppe der Mitläufer ein und verhängt eine kleine Geldbuße.

Da Albert Widmann an der Technischen Hochschule (TH) in Stuttgart studiert hatte, in den Semesterferien am Chemischen Untersuchungsamt der Stadt Stuttgart und am Organisch-Chemischen Institut der TH gearbeitet und dort auch promoviert hatte, war er in der Region bestens vernetzt. So findet er nach dem Krieg schon bald bei der Lackfabrik Votteler eine Stelle und steigt zum Chefchemiker auf. Um keine schlafenden Hunde zu wecken, meldet der einstige Beamte auf Lebenszeit auch keine Ansprüche beim Staat an.

Erst Ende der 50er-Jahre kamen Ermittler Widmann auf die Spur, zumindest auf einen Teil seiner Verbrechen. So wird der Chemiker vor dem Landgericht Düsseldorf wegen Menschenversuchen im Konzentrationslager Sachsenhausen angeklagt, bei denen er 1944 eine selbst hergestellte Giftmunition getestet hatte. Die „Versuchskaninchen“ waren nach einem fast zweistündigen Todeskampf gestorben. Im Mai 1961 verurteilt ihn das Gericht wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Zuchthaus. Nach einer Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs und einem erneuten Verfahren vor dem Landgericht Düsseldorf wird die Strafe 1962 auf drei Jahre und sechs Monate reduziert.

Die ganze Dimension der Verbrechen Albert Widmanns wird aber erst im „Gaswagen-Prozess“ in Stuttgart bekannt. Die Staatsanwaltschaft wirft Widmann Beihilfe zum Mord vor. Unter anderem habe er sich an der Entwicklung von fahrbaren Gaskammern beteiligt.

„Eine andere Tötungsart“

Begonnen hatte die kriminelle Karriere des schwäbischen Jungchemikers in der Kanzlei des Führers in Berlin. Dort sollte der Fachmann erklären, welche Methode er für die geplante Tötung von Geisteskranken empfehlen würde. Widmann schlug CO-Gas vor. Zur Tarnung hat er die Kohlenmonoxid-Gasflaschen über sein Institut bei der IG Farben (heute BASF) in Ludwigshafen bestellt. Das Gas wurde dann weitergeleitet an die Tötungsanstalten Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, Brandenburg bei Berlin, Hartheim bei Linz, Sonnenstein bei Pirna, Hadamar und Bernburg. Später beschaffte Widmann für Heil- und Pflegeanstalten und sogenannte Kinderfachabteilungen auch Medikamente wie Luminal, Morphium, Skopolamin und Blausäure, mit denen Psychiatriepatienten und behinderte Kinder „abgespritzt“, wie es damals hieß, also getötet wurden – auch in Stuttgart.

1941 sollte der begabte Chemiker „zur Entlastung“ der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD „eine andere Tötungsart“ entwickeln. Denn Heinrich Himmler, der Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei, wollte verhindern, dass die Täter psychische Probleme bekommen, wenn sie Menschen, insbesondere Frauen und Kinder, erschießen. Das KTI sollte deshalb ein Verfahren entwickeln, das die unmittelbare Konfrontation mit den Opfern ausschließt.

Versuche in Weißrussland

Albert Widmann hat sich dazu zwei Versuche ausgedacht. Er reist zusammen mit einem Helfer und seinem Vorgesetzten Arthur Nebe ins damals von den Deutschen besetzte Weißrussland. Im Gepäck: acht Zentner Sprengstoff, zwei Metallschläuche und diverses Werkzeug. In einem Wald nahe Minsk lassen die Deutschen 25 geistig Behinderte in einen Unterstand sperren und mit 250 Kilogramm Sprengstoff in die Luft jagen. Nach anfänglichen Zündungsproblemen löst Widmann die Detonation selbst aus. Da im Inneren des Bunkers Stöhnen zu hören ist und einige der Opfer blutüberströmt, schreiend und wimmernd herauskriechen, werden noch einmal 100 Kilogramm Sprengstoff zur Explosion gebracht. Im Bunker ist es nun totenstill. In der Umgebung liegen Leichenteile, einige hängen auf den Bäumen. Der Versuch war gescheitert, denn die SS suchte eine einfache Mordmethode.

Das zweite Experiment machen die Deutschen mit fünf Patienten des Psychiatrischen Krankenhauses in der weißrussischen Stadt Mogilew. Widmann will die geräuschlose Tötung mit Gas testen, wie sie seit 1940 im Deutschen Reich bei der Ermordung von geistig und körperlich Behinderten praktiziert wird. Da sich das in Stahlflaschen abgefüllte Kohlenmonoxid nur mit großem Aufwand über weite Entfernungen transportieren lässt, will er die Wirkung von Motorabgasen ausprobieren. Die SS-Schergen lassen deshalb das Fenster eines kleinen Raums im Erdgeschoss eines Klinikgebäudes zumauern, in die Mauer zwei Rohrstücke einsetzen, die zwei mitgebrachten Metallschläuche daraufstecken und mit dem Auspuff seines mitgebrachten Dienstfahrzeugs, einer Adler-Limousine, verbinden. Sein Fahrer startet den Motor.

Die Deutschen konnten „durch ein in der Tür befindliches Glasfenster in das Labor hineinsehen“, berichtet Widmann später. Doch weder nach fünf noch nach acht Minuten ist eine Wirkung erkennbar. Daraufhin habe man, so Widmann, „den zweiten Schlauch an einen Mannschafts-Lkw der Ordnungspolizei anschließen lassen. Dann hat es nur noch wenige Minuten gedauert, bis die Leute bewusstlos waren.“ Die Methode hat sich bewährt. Es kam nur auf die Dosis an. Über 800 Menschen werden anschließend in dieser Kammer auf dieselbe Weise ermordet. Aber die Einsatzgruppen benötigen eine bewegliche Tötungseinrichtung. So entwickelt man schließlich einen speziellen Kastenaufbau für Fahrzeuge, in dem 30 bis 50 Menschen mit Autoabgasen getötet werden können. Schon innerhalb weniger Monate werden damit Zehntausende von Menschen getötet. Für die „Endlösung“ genügt den Mördern die „Kapazität“ der mobilen Einrichtungen allerdings nicht. In Auschwitz und anderen Vernichtungslagern setzt die SS Zyklon B ein.

Gericht sagt: „Offensichtlich reinen Tisch gemacht“

Schon kurze Zeit nach dem Urteil des Landgerichts Düsseldorf wegen seiner Versuche mit Giftmunition hatte Widmann 1963 das Zuchthaus verlassen. Im „Gaswagen-Prozess“ 1967 verurteilte das Stuttgarter Schwurgericht unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor Wolfgang Fischer den Chemiker dann nur noch wegen Beihilfe zum Mord in 24 Fällen in Minsk, in fünf Fällen in Mogilew und in 4.000 Fällen wegen der Mithilfe bei der Erstellung des Gaswagens. „Nach der Ansicht mancher namhafter Kommentatoren wäre der Angeklagte in diesen beiden Fällen als Täter abzuurteilen“, geben die Richter im Urteil zu. Denn Widmanns Taten hätten „in unmittelbarer Nähe zur Mittäterschaft“ gestanden. Doch der Chemiker habe „offensichtlich reinen Tisch gemacht und sich von seiner schuldbeladenen Vergangenheit distanziert“. Das Strafmaß: sechs Jahre und sechs Monate Zuchthaus. Die Richter rechnen darauf aber die Strafe des Düsseldorfer Gerichts und die verbüßte Untersuchungshaft an. Gegen die Zahlung von 4.000 Mark an eine Behinderteneinrichtung ist Albert Widmann so auch nach dem Urteil ein freier Mann. Er ist am 24. Dezember 1986 in Stammheim gestorben.

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