WANDERSCHAFTSTAGEBUCH, TEIL III
: Die schönste Stadt der Welt

■ studierter Kameramann, ist seit 1998 Daumenkinograph: Er wandert regelmäßig über Land, zeigt seine Daumenkinos und macht Fotos für neue. Foto: Susanne Schuele

Mit einem Bauchladen, auf dem sechs meiner Daumenkinos liegen, gehe ich regelmäßig auf Wanderschaft. Ich reise zu Fuß und zeige sie den Leuten am Straßenrand und über den Gartenzaun, besuche Dorffeste und führe meine Bilder abends in Kneipen vor. Diesen Sommer laufe ich von Oldenburg über Bremen, Hamburg, Lübeck und Wismar nach Rostock.

Auf dem Schiff von Finkenwerder nach Hamburg-Oevelgönne nahm ich auf dem Oberdeck Platz. Zwei Plätze weiter saß eine ältere Dame. Sie war bunt gekleidet und hatte rot gefärbte Haare. „Was ist das denn?“, fragte sie mit Blick auf meinen Bauchladen. „Das sind Daumenkinos.“ Sie sah mich verständnislos an. „Kennen Sie Daumenkinos?“ Sie schüttelte den Kopf. Ich führte ihr eins vor. Ein alter Mann lüftet seine Baseballmütze. Seine Augen beginnen zu strahlen, er lacht und ein Goldzahn wird sichtbar.

„Ja, der hat sich bewegt. Und was soll das?“ Die Dame wirkte ein wenig überfordert. Ich erzählte ihr, dass es Menschen gibt, die sich darüber freuen, dass in meinen Daumenkinos Porträts für wenige Sekunden lebendig werden. „Ich bin ja auch ein kreativer Mensch“, sagte sie. „Aber ich würde im Leben nicht auf die Idee kommen, mein Krams auf so ein Brett zu legen! Warum machen Sie das denn?“ Ich erklärte ihr, dass ich ohne eigenes Geld reise würde und mit der Vorführung der Daumenkinos meine Wanderschaft finanziere. „Warum machen Sie nicht richtige Filme? Machen Sie doch Tierfilme oder wenigstens Blumenfilme! Damit können sie wirklich Geld verdienen!“

Das Schiff nahm Kurs auf die Anlegestelle. Wir gingen die Treppe hinunter. Unten zog ich meinen Anhänger hervor, der zwischen Fahrrädern geparkt war. Die rothaarige Dame riss die Augen auf. „Was wollen Sie denn mit der Karre?“– „Damit ziehe ich mein Zelt hinter mir her, meine …“ Sie ließ mich nicht ausreden. „Sie schlafen im Zelt?“, rief sie entgeistert. Wir verließen das Schiff. Die Dame wünschte mir einen schönen Sommer und verschwand zwischen den anderen Passagieren.

Mein Verhältnis zu Hamburg blieb kühl. Trotz einiger schöner Begegnungen spürte ich ein Befremden mir gegenüber. Selten wurde ich auf der Straße angesprochen, nur schwer fand ich Kneipen, in denen ich Lust hatte, meine Daumenkinos zu zeigen.

Ich lief weiter nach Lübeck. Kaum hatte ich Lübeck erreicht, nahm ich den Zug zurück nach Hamburg. Wie viele Stunden ich in den drei Tagen zuvor zwischen Hamburg und Lübeck auf der Landstraße verbracht hatte! Wie viel ich geschlafen hatte, wie viel ich gesehen hatte! Wie viel ich geträumt hatte …

Das alles schnurrte nun zu einer 40-minütigen Zugfahrt zusammen. Als ich am Hauptbahnhof ausstieg, war mir Hamburg noch fremder als zuvor. Ich lief zum Thalia Theater, um die Karte abzuholen, die für mich hinterlegt war. Zufällig saßen vor dem Theater gerade Freunde aus Berlin, die in Hamburg beschäftigt waren. Es gab ein großes Hallo. Eben noch in Lübeck, saß ich plötzlich in Hamburg unter Freunden, die ich nur aus Berlin kannte. Seltsam.

Mein Verhältnis zu Hamburg blieb kühl. Nur schwer fand ich Kneipen, in denen ich Lust hatte, meine Daumenkinos zu zeigen

Kurz darauf zupfte es an meinem Hut. „Haben sie überhaupt eine Lizenz für das, was Sie hier tun?“, fragte eine Stimme. Hinter mir stand ein Freund aus Oldenburg, mit dem ich den ersten Abend meiner Wanderschaft gefeiert hatte. Was ging hier vor? War ich gar nicht in Hamburg, sondern auf unerklärliche Weise bis nach Oldenburg zurückkatapultiert worden?

Mein Berliner Freund hielt mir einen Wohnungsschlüssel vor Nase. „Kannst Du haben, wenn Du noch was zum Schlafen brauchst.“ Er nannte mir eine Adresse. Es war die Wohnung eines Freundes von ihm, die ihm zur Verfügung stand. Nach dem Theaterbesuch lief ich zu der fremden Wohnung und schloss die Tür auf. Ich betrachtete die Lebensspuren einer Person, die ich noch nie gesehen hatte. Ich ging auf den Balkon und sah über die Dächer einer unwirklichen Stadt. Es war die schönste Stadt der Welt. VOLKER GERLING