Einer wird verlieren

Toleranztheater: Michael Radford hat Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ verfilmt, ohne dass er zum Kern des Stückes – der Geburt des Antisemitismus aus dem Geist der Komödie – viel zu sagen hätte. Al Pacino gibt den Shylock als Mischung aus verschmitztem Rabbi und Mafioso

VON PHILIPP BÜHLER

Man sollte sich die Frage erlauben, ob Shakespeare seinen „Kaufmann von Venedig“ nicht total vermurkst hat. Eine Komödie, in der ein Haufen Christenlümmel nebenbei einen Juden erledigt, was niemanden recht zu interessieren scheint, auch nicht den Autor selbst – das ist aus heutiger Sicht ein ziemlicher Hammer, anders ausgedrückt eine Tragödie. Doch die „Spielbarkeitsdebatten“ sind geführt, jede Provinzbühne kann ihn heute bringen, den Shylock, den so beliebten bösen Juden, der als Pfand für ein Darlehen ein Pfund Fleisch aus den Rippen seines Schuldners fordert und dafür aufs Allerkomischste ausgetrickst wird. Man tut das, was ihm zum Ende abverlangt wird, man schnippelt ein paar Stücke heraus, ohne „nur einen Tropfen Blut“ zu vergießen, damit alles koscher bleibt. Doch es bleibt nie koscher, es fließt immer Blut, und eben darum ist dieses Stück genial, noch in der schlechtesten Inszenierung.

Michael Radfords Verfilmung, tatsächlich die erste in Ton, ist nicht schlecht. Sie läuft nur ein wenig zu rund angesichts der brachialen Inkonsistenzen, die uns Shakespeare zugemutet hat. Schon mit der ersten Szene zeigt er uns, wo er hin will in der ewigen Programmheftfrage: „Der Kaufmann von Venedig – christliche Komödie oder jüdische Tragödie?“ In eindrucksvollen Bildern zeigt er die Vorgeschichte des Ganzen: Wie die Juden Venedigs von klerikalen Eiferern angefeindet werden und der honorige Kaufmann Antonio (Jeremy Irons) dem Geldleiher Shylock (Al Pacino) ins Gesicht spuckt – das eben gibt es bei Shakespeare nur als Text und ist doch das ganze Motiv jenes bitteren Hasses, mit dem Shylock Antonios Schuldschein zeichnen wird. Rache will er, für sich und vielleicht auch für den armen jüdischen Tropf, der da im Hintergrund von der Rialtobrücke fliegt. Das Johlen des Mordmobs interpretiert man ohne viel Fantasie als den Jubel des Publikums früherer Tage, wenn dem Juden am Ende vor Gericht der Garaus gemacht wird.

Doch vor die Tragödie hat Shakespeare die Komödie gesetzt, als die das Stück jahrhundertelang aufgeführt wurde. Darin benötigt der Adelige Bassanio (Joseph Fiennes) dringend Geld, um der schönen Portia (Lynn Collins) im fernen Belmont den Hof zu machen. Die Vorsprache bei Shylock erledigt sein Freund Antonio, ein – auch in dieser uralten Frage ist Radford eindeutig – schwuler Liebesdienst, der mit dem bekannten Pakt besiegelt wird. Dann ist der enttäuschte Melancholiker eine Weile weg vom Fenster, während es in Belmont reichlich albern zugeht. Portia lässt einige gutbetuchte Freier unter drei Kästchen auswählen, wer richtig rät, bekommt sie zur Frau. Hier hat Radford am meisten geschnitten, auf dass es nicht zu lustig wird. Nicht das sonnig verkitschte Belmont, sondern das düstere Venedig, das als Originalschauplatz eine großartige Bühne liefert, ist zentraler Ort der Handlung. Der Grundgedanke bleibt erhalten: Nicht nur Shylock, der seine Tochter Rebecca als Besitz betrachtet, auch die Christen wiegen Liebe in Dukaten. Ein munteres Kaufmannsspiel, bei dem alle gewinnen. Bis auf einen.

Die Nebenfigur Shylock steht, so ist es mittlerweile Usus, auch bei Radford im Zentrum. Wie könnte es anders sein, ist doch dieses Pastiche antisemitischer Stereotype, wie sie im judenlosen England des 16. Jahrhunderts im Schwange waren, die einzige komplexe Figur des Stücks. „Den kriegste nicht ekelhaft – warum, weiß ich auch nicht“, hat Peter Zadek über ihn gesagt. Dieses Vertrauen hat Radford nicht. Hätte er ihn sonst mit Al Pacino besetzt? Der liebste, schönste und beste Schauspieler von allen spielt ihn irgendwo zwischen verschmitztem Rabbi und Michael Corleone. Nicht stereotyp verschlagen, aber auch nicht gerade als Nathan der Weise. Er genießt es, seine Feinde in der Hand zu haben. Doch er zelebriert es mit dem Pathos des Entrechteten, der das kommende Unrecht ahnt. Mit seiner berühmte Apologie („Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“), direkt in die Kamera gesprochen, hat er die Sympathien ohnehin auf seiner Seite. Shakespeare, kein Zweifel, hat sich interessiert. Wie sehr, ist eine Frage der Regie.

Radford macht Shakespeares venezianischen Maskenball zum Toleranztheater, wie man es vom heutigen Mainstream erwarten kann. Die Shakespeare-Experimente eines Kenneth Branagh sind Geschichte. Die Besetzung besticht, mit der Ausnahme Pacinos, als durchweg zweitrangig und geht mit einer eher schwermütigen Rezitation auf Nummer sicher. Der Kern des Stücks, die Geburt des Antisemitismus aus dem Geist der Komödie, bliebe gänzlich unerforscht, wäre da nicht der letzte, jener verfluchte fünfte Akt, die offene Wunde. Der Jude ist vernichtet, nicht physisch, aber in seiner Existenz, und die Herrschaften haben nichts Besseres zu tun, als sich mit einem Ringchenwechselspiel zu verlustieren. Nirgendwo ist das Entsetzen spürbarer als hier, in der Leere des Vergessens. Shakespeare, das weiß Radford sehr genau, lässt sich nicht austricksen.