Schulhoffähige Klassik

Klassische Musik? Als Instrument engagierter Jugendarbeit und praktischer Sozialpolitik? Das gibt’s nicht? Philharmoniker Sir Simon Rattle und 200 Berliner Jugendliche beweisen wieder das Gegenteil

VON EDITH KRESTA

Susannah Broughton hebt die Arme, langsam kommt Ruhe in das Gewusel der etwa 200 Jugendlichen auf der Bühne in der Berliner Arena. Sie geben eine Probe ihres Tanzes zu Igor Strawinskys „Feuervogel“. Mit dem Einsetzen der Musik formiert sich die Menge. Aus dem Gewusel schält sich ein stimmiges Bild, Körper im Einklang. Zusammen mit der klassischen Musik wirkt die Großinszenierung fast pathetisch. Sie berührt.

Die englische Choreografin Susannah Broughton hat Erfahrung mit zappeligen Jugendlichen: Sie war 2003 Co-Choreografin des ersten Tanzprojekts der Berliner Philharmoniker zu „Le Sacre du Printemps“ und leitete im letzten Jahr, gemeinsam mit Royston Maledoom, das zweite Tanzprojekt zu „Daphne et Chloé“. Nach monatelangem Proben in den Schulen werden die einstudierten Stücke zusammen mit dem Philharmonischen Orchester in der Berliner Arena präsentiert. Mit Erfolg und Gewinn für alle Teilnehmenden.

Über den Kreis der Kenner hinaus aber machte im vergangenen Jahr erst die Kino-Dokumentation „Rhythm is it“ das Education-Programm der Berliner Philharmoniker bekannt.

Ins Leben tanzen

Der Film porträtierte das Projekt auf sehr intime Weise, begleitete Schüler, die am Projekt teilnahmen, zeigt ihre Schwierigkeiten, ihre Ängste, ihre Fortschritte und ihre Erfolge – und machte die Idee des Projekts deutlich: Kreativität wecken und fördern und an „das Ideal der Konzentration“ heranführen, wie Sir Simon Rattle es ausdrückt, „egal ob in der Musik oder im Tanz“.

Für die Schüler aus vor allem sozial schwachen Verhältnissen in Neukölln war es keine leichte Aufgabe, die Ihnen der Star-Dirigent aus Liverpool da stellte. „Rhythm is it“ dokumentiert, dass sie dennoch meistern und Zugang zu neuen Herausforderungen finden können. Der Film zeigt, wie hart es ist, Disziplin aufzubringen, und wie lohnend es sein kann, auf die eigene Kraft zu bauen – ein authentisches Lehrstück über die Kraft positiven Denkens.

Unterstützt wird das Education-Programm der Berliner Philharmoniker mit dem etwas bemühten Titel „Zukunft@ BPhil“. Ziel ist es, „die Arbeit des Orchesters und seine Musik einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen“, und das bedeutet: Raus aus dem Elfenbeinturm der teuren, gutbürgerlichen Philharmonie. Um Menschen für klassische Musik zu erwärmen, die bei diesem Thema ansonsten nur gelangweilt mit den Augen rollen. Und natürlich auch, um die Philharmonie selbst zu demokratisieren und zu verjüngen.

Entsprechend dieser frisch formulierten sozialen Verantwortung der Kulturproduzenten ist denn auch die neue Tanzcompany zusammengesetzt: Schülerinnen und Schüler einer Grundschule aus Berlin-Marzahn und einer Kreuzberger Oberschulen nehmen daran teil, unterstützt von zwei Jugendtanzgruppen.

Jeder Verdacht auf Jugendwahn wird dabei schon vom Alter der Darsteller rasch entkräftet. Denn seit sich auch eine Gruppe tanzbegeisterter Berliner SeniorInnen dem Projekt angeschlossen hat, sind die „Feuervogel“-Darsteller zwischen 9 und 77 Jahren alt – das einzige Problem bestand darin, genügend männliche Teilnehmer zum Tanz zu bitten.

Kein Problem dagegen war es, die aufwändigen Kostüme für die „Feuervogel“-Truppe zu organisieren: Die 11. Klassen des „Oberstufenzentrums für Bekleidung und Mode“ in Kreuzberg schneiderten .

Neben den Tanzprojekten, die immer ins laufende Programm der Philharmonie eingebunden sind, bietet die Philharmonie auch andere übergreifende Projekt im Rahmen des Educational-Programms an. So können Besucher vom 26. bis 28. April im Philharmonischen Garten das so genannte Projekt 23 begutachten und die verschiedenen Klang-Installationen belauschen, die Schüler einer 6. Klasse zum Werk des japanischen Komponisten Tore Takemitsu („A Flock Desends into the Pentagonal Garden“) entworfen haben.

Lebendig statt luxuriös

„Zukunft@Phil“ soll daran erinnern, dass Musik kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis ist. „Musik soll ein vitaler und essenzieller Bestandteil im Leben aller Menschen sein“, wünscht sich Simon Rattle.

Längst ausverkauft sind die Karten für den 22. und 23. April, wenn das Stück der Jugendlichen mit den Philharmonikern aufgeführt wird – ein weiterer Schritt zur Erfüllung des geheimen Traums der Philharmoniker und ihres rührigen Dirigenten, dass eines Tages klassische Musik tatsächlich schulhoffähig wird.