„Wir beobachten einen Megatrend der Respiritualisierung“, sagt Paul M. Zulehner

Die jungen Katholiken sind vom integren Gottesmann begeistert – und lassen sich moralisch doch nichts vorschreiben

taz: Herr Zulehner, es war für uns alle ein bisschen viel in den vergangenen Wochen: Können Sie das Wort „Papst“ überhaupt noch hören?

Paul Zulehner: Es war in der Tat ein Hauch von Hysterie im Ganzen enthalten. Ich glaube aber nicht, dass es kirchengemacht war. Es war in der Welt oder Medienwelt eine unglaubliche Angerührtheit und Sensibilität, Interesse und frivole Neugier auch weit über die Grenzen der Glaubenden hinaus. Das war schon verwunderlich. Ich bin aber sehr froh, wenn auch für meine eigene Arbeit etwas Ruhe einkehrt. So etwas sollte nicht von Dauer sein.

Was sagt uns dieser Papst-Medienhype der vergangenen Wochen: Ist die katholische Kirche wieder gesellschaftlich wichtiger geworden?

Nach unseren Forschungen würde ich das weiter gehend interpretieren. Es gibt ja so etwas wie „keine Väter mehr in der Öffentlichkeit“. Es gibt keine Leute mehr, denen man vorbehaltlos abnimmt, dass sie für das stehen, was sie sagen, gerade in der Politik. Dazu finden wir eine Säkularität, die ausgehungert ist. Wir beobachten einen Megatrend der Respiritualisierung in der ganzen Gesellschaft. Deshalb waren jüngere Leute fasziniert von Wojtyła. Er galt als integrer Mann, der auch von der anderen Welt ist, die uns verschlossen scheint. Wegen der Bündelung dieser Aspekte haben die Hungrigen zugegriffen. Außerdem konnte man sich vorbehaltlos dem ganzen Spektakel hingeben, man musste dies niemandem erklären.

Es war also nicht nur das absolutistisch-höfische Zeremoniell, das für viele so faszinierend war, sondern es ging auch um Inhalte?

Die Beerdigung war von so einer bestechenden Einfachheit, wie man noch nicht einmal ein Hochamt im Kölner Dom feiern würde. Sie hat durch Schlichtheit imponiert. Das war ja auch einer der Sternstunden des jetzigen Papstes: Kardinal Ratzinger hat eine Predigt gehalten, die weit über das ging, was man einem Intellektuellen zutraute – er hat die Herzen der Menschen erreicht. Das war eine schlichte Sensation.

Sehnen sich viele nach strikten moralischen Vorgaben?

Ich glaube nicht. Es geht vor allem um den Mystiker, den Repräsentanten einer anderen Welt als dieser banalen. Die Leute hielten nicht nach Moral Ausschau. Ich kenne junge Leute, die zusammenleben, ohne dass sie verheiratet sind. Die suchen den Papst auf und applaudieren, wenn er sagt, man dürfe vor der Ehe nicht zusammenleben. Diese Paradoxie bringen die Leute zusammen! Sie sind an dem Gottesmann interessiert, der den Himmel offen hält, und nicht an Moral.

Ist es dieses Opa-Phänomen: Kommt die Jugend besser mit den alten, strengen Wojtyła und Ratzinger zurecht, weil es nicht die Väter sind, mit denen man dauernd streitet?

Das ist die eine Seite. Die andere ist die überraschende spirituelle Kraft, die Johannes Paul II. eigen war. Er war so etwas wie ein Guru gegen Ende seines Lebens. Man nahm ihm ab, dass er zu jenem Gott steht, über den er die ganze Zeit geredet hat. Und das nicht nur in Sachen Frieden und Gerechtigkeit in der Welt, wo man ihm viel Positives zugute halten muss.

Wenn die Jugend derzeit eine Sehnsucht nach Frömmigkeit hat: Warum kann sie offenbar die katholische Kirche im Augenblick stillen?

Der Papst ist der „weiße Mann“ im Sinne von: nicht korrupt, integer. Da war einer, der – ausgerechnet! – wie Luther sagt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Ein Steher in Zeiten, in denen man eigentlich kein Stehvermögen mehr hat.

Was bedeutet diese konservative Linie beider Päpste für die protestantischen Kirchen: Ist die häufig geübte Kritik berechtigt, die Protestanten hätten sich zu sehr dem Zeitgeist angepasst, würden deshalb von der Jugend nicht mehr ernst genommen?

Zum einen ist das Wort „konservativ“ hier völlig unangebracht. Es ist eine kulturelle Avantgarde, die hungrig geworden ist. Die Spiritualität kommt aus der Säkularität, nicht aus der Konservativität. Sie kommt auch nicht aus den Kirchen heraus, sondern erfasst eine Kultur, die sich in die Enge getrieben fühlte, wo viele Menschen das Weite suchen, während vor allem die Aufbrechenden die Weite suchen: die spirituelle Weite. Der Himmel soll sich wieder auftun über einem banalen Arbeits- und Genussleben.

Und warum profitiert der Protestantismus davon nicht?

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland hat schon geschrieben, dass der Protestantismus seit 30 Jahren sich in einer bedrohlichen Weise selbst säkularisiert hat. Darüber muss man ernsthaft nachdenken: Wer sich der Moderne der 70er-Jahre vorbehaltlos hingegeben hat, der partizipiert auch an der Krise dieser Moderne. Da gibt es dieses Sprichwort: Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, ist bald geschieden.

Manche haben ja die vage Hoffnung, der neue Papst könnte gerade deshalb offener sein, weil er aus der konservativen Ecke kommt. Halten Sie diese Hoffnung für berechtigt?

Er kommt ja Gott sei Dank aus Bayern, nicht aus Preußen – und die Bayern haben sich eine Urliberalität erhalten. Und nun ist der Glaubenshüter, der Verteidiger, zum Coach der Mannschaft geworden. Er ist nun verantwortlich dafür, dass alle Positionen gut spielen, dass es Flügelstürmer gibt und auch Aufbruch und Entwicklung.

INTERVIEW: PHILIPP GESSLER