„Harte Strafen können eskalierend wirken“

Selten wurden wegen der Teilnahme an den 1.-Mai-Krawallen so harte Strafen ausgesprochen wie im vergangenen Jahr. Abschreckend wirke das nicht, sagt Claudius Ohder, Professor an der Fachhochschule für Verwaltung und Recht

taz: Herr Ohder, 34 Monate Knast ohne Bewährung wegen eines Flaschenwurfs – schrecken solche harten Strafen am 1. Mai potenzielle Randalierer ab?

Claudius Ohder: Harte Strafen sind nur selten abschreckend. In Ländern mit Todesstrafen ist die Tötungskriminalität zumindest nicht geringer als in Ländern ohne. Und es ist keinesfalls so, dass die Kriminalitätsraten dort hoch sind, wo das Sanktionssystem eher liberal ist. Wir müssen davon ausgehen, dass einer Straftat kein rationaler Abwägungsprozess vorausgeht und eine hohe Strafandrohung schon deshalb ohne größeren Einfluss bleibt.

1.-Mai-Randalierer sind ja keine Schwerkriminellen, sondern überwiegend erlebnisorientierte Personen, die einmal im Jahr auf den Putz hauen.

Trotzdem kommt es zu gravierenden Rechtsverletzungen. Und jeder, der sich an der 1.-Mai-Randale beteiligt, weiß um das Risiko, von der Polizei geschnappt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass man persönlich bestraft wird, ist jedoch eher gering. Im Ergebnis führt die harte Bestrafung Einzelner zu einer Kombination von hohem Risiko und geringer Wahrscheinlichkeit des Eintritts, was sogar eskalierend wirken kann. Das Risiko wird als Wagnis gesehen, das für zusätzlichen Nervenkitzel sorgt.

Glauben Sie nicht, dass dieser Reiz ab einer bestimmten Strafhöhe verloren geht?

Kaum. Die Statistik vom vergangenen 1. Mai unterstreicht meine Skepsis. Nach insgesamt 383 eingeleiteten Verfahren bekamen acht Personen lange Haftstrafen aufgebrummt. Angesichts der über zehntausend Menschen, die am 1. Mai in Kreuzberg unterwegs sind, und den einigen hundert potenziellen Gewalttätern wird die Zahl derer, die wegen der Ausschreitungen hart bestraft wurden, als eher gering empfunden. Das wirkt nicht abschreckend.

Plädieren Sie dafür, dass die Polizei noch härter durchgreifen müsste, um die Gewaltbereitschaft einzudämmen?

Wenn ich Verfechter von Strafen zur Prävention wäre, würde ich mehr Ermittlungsverfahren fordern. Aber dann müssten die Strafen nicht Einzelne besonders hart treffen, sondern es müsste zu einer Erhöhung der Sanktionswahrscheinlichkeit kommen. Ich bin aber kein Verfechter von Strafen aus Abschreckungsgründen. Denn ich finde es bedenklich, wenn der Staat die wenigen Erwischten für die mitbestraft, die nicht ermittelt werden konnten. Cesare Beccaria, der große Aufklärer im Bereich des Strafrechts, hat gefordert, Strafen in einer zivilen Gesellschaft an dem Unrechtsgehalt der Straftat auszurichten. Eine Sanktion, die über den konkreten Unrechtsgehalt hinausgeht, darf es in einer freiheitlichen Gesellschaft also eigentlich gar nicht geben.

Wenn Sie das Sagen hätten, wie würden Sie vorgehen?

Generell gilt es, den Gewaltbereiten zu verdeutlichen, dass sinnlose Verwüstungen letztlich immer zu Lasten der Anwohner gehen. Insofern geht das schon in die richtige Richtung, wenn türkische Väter auf die Straße gehen und ihre Junioren zurückrufen und die Anwohner mit einem Straßenfest deutlich machen: Wir haben keinen Bock mehr auf Krawalle. Falls die Stimmung dennoch kippt, ist es immer noch besser, wenn die Polizei kurz und heftig reagiert, als sich auf stundenlange Katz-und-Maus-Spiele einzulassen. Das heizt die Aggressionen nur zusätzlich auf – und zwar auf beiden Seiten.

INTERVIEW: FELIX LEE