Viel Moses, viel Marx

Die SPD Friedrichshain-Kreuzberg lud ihren Generalsekretär und weitere Parteiprominenz ein, um über das kommende Grundsatzprogramm zu reden. Trotz biblischer Formulierungen zeigte sich: Kapitalismuskritik kommt hier noch an

Im Saal der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung ging es am Mittwochabend mehr biblisch als politisch zu – obwohl die SPD tagte und dazu ranghohe Parteiprominenz eingeladen hatte. Auf dem Novemberparteitag in Karlsruhe will man ein neues Grundsatzprogramm verabschieden, und um das vorzubereiten, kam unter anderem Generalsekretär Klaus Uwe Benneter nach Kreuzberg.

Gleich zu Beginn verkündete Genosse Benneter, der Parteivorsitzende Franz Müntefering habe in seiner jüngsten Kapitalismuskritik „die Finanzinvestoren gemeint, die in der Welt unterwegs sind und wie die Heuschrecken in ein Land einfallen“. In Zeiten der Papstwahl ein gelungener Vergleich. Der Tradition gemäß hagelte es dann Kritik, erst gegen die Grünen, später gegen die Union. Sie war weniger originell denn professionell: Zwischenrufe der Basis wurden souverän ignoriert, die Redezeit genau eingehalten.

Björn Böhring, der Juso-Bundesvorsitzende, durfte nach dem kleinen Grundwerteaufsatz der Vorsitzenden der Berliner Programmkommission, Hella Dunger-Löper, vor dem himmelblauen SPD-Transparent Platz nehmen und sich über die dort abgedruckten Schlagwörter Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auslassen. Kein einfaches Terrain für den Juso mit der ungefärbten Schröder-Frisur. Von Zwischenrufen geplagt, sprach er über das Pontifex-Thema „Brücken bauen zwischen Ihr-da-oben und Wir-hier-unten“. Bei besonders wichtigen Passagen warf er verunsicherte Blicke Richtung Benneter. Seine Rede über das Vertrauen in den Staat beinhaltete alles, was eine Juso-Rede brauchte, um seinen Platz in der Sitzordnung, links außen, auch inhaltlich zu untermauern.

Den Abend rhetorisch retten konnte der Vorsitzende der schleswig-holsteinischen Programmkommission, Eckhart Kuhlwein. Er traute Müntefering zu, es mit seiner Kritik ernst zu meinen: Schließlich wüssten Politiker, dass solche Sätze noch lange an ihnen kleben werden. Mit seinen Überzeugungen traf er den Nerv der Anwesenden: gegen Privatisierung und Armut, Nein zum neoliberalen Dogma. Ein klarer Glaubensbruch zu weiten Teilen der Parteispitze, den der Sozialdemokrat aus dem Norden noch festigte, indem er jeden Zusammenhang zwischen mehr Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum ausschloss und den Berlinern mit seiner Unterstützung für den Ethikunterricht den Rücken stärkte.

Zweifelnde Genossen durften sich dann in der freien Debatte äußern. Authentizitätsverlust, die öffentlich-privaten „Partnerschaften“ und Hartz IV standen im Kreuzfeuer der Kritik. Die wurde von den Rednern gemäß ihrer Funktion und Gesinnung beantwortet – oder auch nicht. Abschlusspointe von Kuhlwein zu Benneter, der wiederholt versuchte, Münteferings Kapitalismuskritik in ein göttliches Licht zu verschieben: „Du bist hier nicht bei Sabine Christiansen!“ „Nein, aber da hinten sitzt der Kollege der Berliner Morgenpost.“ LUC CAREGARI