IM EDELWEISS: Image und Fassade
Obwohl das „Edelweiss“ relativ leer ist, dauert es eine Weile, bis die Kellnerin erscheint. Aber was soll’s, ich bin ja kein Restauranttester. Wir haben die Nacht mal wieder zum Tag gemacht, aber da das alte Spiel vom „Tag der Umkehrung“ schon zur Genüge ausgereizt wurde, weigern wir uns, den Tag zur Nacht zu erklären, schlafen kann man auch noch, wenn man tot ist.
Die bestellten Speisen kommen gar nicht oder nur teilweise, die Kellnerin vergisst das Besteck, einen Brotkorb gibt es nicht. Eine Apfelschorle gehört zu den wenigen Dingen, die ich bekomme und also zu mir nehmen kann, aber was soll’s. Dem Besitzer gefällt mein „Welcome to Schwabylon“-Shirt. Und die Bedienung schlägt mir irgendwann vor, dass sie mir statt dem Lachs (der jetzt nochmal eine halbe Stunde dauern würde) auch Blaubeerpfannkuchen bringen könnte. Wohlgemerkt handelt es sich um Pfannkuchen, die ein anderer Gast nicht bestellt, aber erhalten hat. Ein Obdachloser läuft zwischen den Tischen herum, ich beruhige mein Gewissen, er bedankt sich, da klingelt sein Handy. Die Umsitzenden schauen verwundert, und es ist klar, was sie denken: Warum hat der ein Handy?
Während wir uns darüber amüsieren, dass unsere Mitmenschen anscheinend der Meinung sind, Obdachlose dürften kein Telefon besitzen und Punks nicht in den Urlaub fahren, verweist die Kellnerin den Bettelnden der Terrasse. Das alternative Image des Ladens ist wohl mehr Fassade. Schließlich kommt die Rechnung. Alles was wir bestellt, aber nicht bekommen haben, ist aufgeführt, einige zusätzliche Dinge auch. Wir klären die Situation, geben trotz allem reichlich Trinkgeld und ziehen von dannen. Kurz vor dem Ausgang des Görlitzer Parks holt uns die keuchende und schreiende Bedienung ein. „Deine Apfelschorle kostet 2,90 Euro, nicht 2,30!“ So wurde ich zum Restauranttester.
JURI STERNBURG
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