: Grüne Kreidefresser
Vor der Landtagswahl 2011 gehörte ich zu jenen, die für einen Politikwechsel in Baden-Württemberg warben. Nun, im Vorfeld der wichtigen Wahl des Stuttgarter Oberbürgermeisters, sehe ich mit Sorge, wie die Zustimmung zur Politik der Grünen schwindet, die grüne Landtagsfraktion das Profil aufgibt, das ihr zu ihrer jetzigen Stärke verholfen hat, und die Partei zunehmend die Zustimmung von Menschen verliert, die sie bisher unterstützt haben
Als Wahlgewinner sind sie gestartet, als Kreidefresser gelandet. Sagt der Stuttgarter Schriftsteller Wolfgang Schorlau, mit dem die Kontext:Wochenzeitung eine Debatte beginnt, die das Traumatisierende von S 21 überwinden soll. Im Brennpunkt dieses Dauerkonflikts steht die grüne Partei, die für viele zum Prügelknaben geworden ist. Die Landtagsabgeordnete Muhterem Aras antwortet in der nächsten Ausgabe Schorlau.
von Wolfgang Schorlau
Zwischen diesem aktuell zu spürenden Missbehagen und dem Wahltriumph vom 27. März 2011 steht die Volksabstimmung über das die Stadt immer noch traumatisierende Bauprojekt Stuttgart 21. In den grünen Reihen wird das Ergebnis der Volksabstimmung als Niederlage verstanden. Das Ergebnis lohnt jedoch einen zweiten Blick.
Die Volksabstimmung stärkte die Basis der Grünen
Die Landtagswahl 2011 definierte die Parteienlandschaft in Baden-Württemberg neu. Die Grünen wurden zweitstärkste Partei im Land, stärkste Regierungspartei, sie stellen seither den Ministerpräsidenten. In Stuttgart bauten die Grünen mit dem Gewinn von drei Direktkandidaten und einem Zweitkandidaten ihre bereits bei der Kommunalwahl angetretene Rolle als stärkste politische Kraft der Stadt erheblich aus. Ohne den Erfolg in Stuttgart wäre der Regierungswechsel nicht gelungen.
Obwohl die Volksabstimmung eine Entscheidung über eine Sachfrage war, orientierten sich die meisten Wähler erstaunlicherweise in ihrem Abstimmungsverhalten an ihrer Parteienpräferenz. Da die Grünen als einzige im Landtag vertretene Partei gegen Stuttgart 21 auftraten und sich damit in Opposition zu allen anderen Landtagsparteien befanden, konnte die Volksabstimmung nicht gewonnen werden. So schmerzhaft diese Niederlage war, zeigt jedoch eine nähere Betrachtung der Abstimmungsergebnisse, dass das Potenzial der Grünen weit über die ohnehin enormen Zugewinne der Landtagswahl gestärkt wurde. In Baden-Württemberg insgesamt und in fast allen Wahlbezirken übertraf die Zahl der Ja-Stimmen in der Volksabstimmung die Zahl der Grünen-Wähler deutlich (1.206.182 Grün-Wähler Landtagswahl 2011, 1.507.961 Ja-Stimmen), obwohl die Wahlbeteiligung merklich geringer war (66,3 zu 48,3 Prozent; 5.051.941 zu 3.682.739 Abstimmende).
In Stuttgart ist dieser Zugewinn noch deutlicher. Die Grünen errangen ihr historisch bestes Landtagsergebnis 2011 mit 92.023 Stimmen. Die Zahl der Ja-Stimmen in Stuttgart betrug bei der Volksabstimmung 117.235, obwohl auch hier weniger Menschen abstimmten als bei der Landtagswahl (67,8 zu 73,1 Prozent; 249.083 zu 268.815 Abstimmende). Obwohl der Zuwachs auch von einigen kleineren Parteien gespeist wurde, kann man insgesamt sagen: Die Volksabstimmung brachte für die Grünen ein paradoxes Ergebnis – die Abstimmung ging in der Hauptsache verloren, gleichzeitig erhöhte sich jedoch das Potenzial der Partei.
Die Grünen verspielen gerade ohne Not ihr Potenzial
Es ist schwer zu begreifen, aber wahr: Obwohl die Kritik an dem Bauprojekt der grünen Partei die bisher höchste Zustimmung ihrer Geschichte eingebracht hat, stellte sie ebendiese Kritik nach der Volksabstimmung weitgehend ein. Mir scheint, dass sie aus der „kritischen Begleitung“ das Adjektiv vergessen haben. Der Journalist Joe Bauer wunderte sich bei einer seiner Reden kürzlich zu Recht, dass neuerdings von dem Ministerpräsidenten einer Umweltpartei kein kritisches Wort mehr gegenüber der Bahn zu hören sei. Außerdem fragt man sich überrascht, warum der Verkehrsminister plötzlich so seltsam schweigt. Hat hier jemand Kreide gefressen?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Geschlossene Verträge gelten. Sicher muss der Ministerpräsident die mehrheitlich getroffene Entscheidung akzeptieren und umsetzen. Vielleicht müssen Regierungsmitglieder sie in gewisser Weise auch öffentlich vertreten. Doch die Kritik an Stuttgart 21 wird ja nicht dadurch falsch, dass sie von der Mehrheit der CDU- und SPD-Wähler nicht geteilt wird. Die inneren Widersprüche des Projekts sind hinreichend analysiert und werden wohl noch zu manch bösem Erwachen führen. Die Herren Grube und Kefer werden durch die Ergebnisse der Volksabstimmung auch nicht zu ehrbaren Kaufleuten geadelt. Sie bleiben die gleichen Hasardeure wie zuvor.
Wollen die Grünen jedoch ihr Potenzial in den kommenden Wahlen, insbesondere bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl, aber auch im Hinblick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr, nutzen, so ist es nicht ratsam, die Kritik an Stuttgart 21 so rückgratlos aufzugeben, wie sie das im Augenblick tun. Sie sollten die Lehre aus dem Berliner Wahlkampf nicht vergessen, als Renate Künast lange erwog, sich mit den Stimmen der CDU zur Regierungschefin wählen zu lassen. Die Piraten sind bereit zum Entern.
Ohne die SPD gibt es keine Mehrheit
Die SPD verfügt derzeit über keine eigene glaubhafte Erzählung. Sie besitzt keine Geschichte, die den eigenen Laden zusammenhält, geschweige denn auf andere Lager ausstrahlt. Ihr rechter Flügel ist mit der CDU verwoben in der Ansicht, dass Bauen – egal was – gut ist; denn es schafft Arbeitsplätze. Darin stimmt sie mit der CDU überein, die sagt, bauen – egal was – ist gut, denn es bringt unserer Klientel Aufträge.
Für diese Haltung zahlt die SPD einen gewaltigen Preis. Bereits bei der Landtagswahl verlor sie in Stuttgart deutlich die Mehrheit bei den gewerkschaftlich organisierten Wählern an die Grünen. Sie gab an die CDU nur 0,1, an die Grünen jedoch 1,8 Prozent ihrer Wählerstimmen ab.
Andererseits, das ist die bittere Wahrheit aus der Volksabstimmung, gibt es in Baden-Württemberg ohne die SPD keine Mehrheit; weder für die CDU noch für die Grünen.
Wenn es den Grünen gelingt, ihr durch Landtagswahl und Volksabstimmung erworbenes Potenzial zu halten und gleichzeitig ihre Leistungen in anderen politischen Bereichen (Umwelt, Energie, Bildung, Kultur) besser sichtbar zu machen, kann sie stärkste politische Kraft in Baden-Württemberg werden. Hierzu sollte sie, bei allen Rücksichten auf Ministerpräsident und Regierungsmitglieder, als Partei und Landtagsfraktion die Kritik an Stuttgart 21 nicht einstellen, sondern eher verschärfen. Es wird interessant zu sehen, wem das zu erwartende Fiasko angelastet wird, das die Deutsche Bahn AG in Stuttgart anrichten wird.
Verspielen die Grünen die Zustimmung weiter, von der sie im Augenblick noch, wenn auch zunehmend zögerlich, getragen werden, wird nicht nur die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart schwierig, sondern auch die Bundestagswahl. Die Grünen haben drei Direktmandate zu verteidigen, von denen ihre Regierungsbeteiligung unmittelbar abhängt. Es könnte ihnen so ergehen wie den Parteikollegen in Saarbrücken, die gerade als überflüssig aussortiert werden.
In gewisser Weise wird von den Grünen eine strategische Meisterleitung erwartet: Einerseits sind ihre Regierungsmitglieder gehalten, sich an Verträge und Gesetze zu halten. Andererseits müssen sie beim „kritischen Begleiten“ das Element der Kritik deutlich stärken – auch um zu verhindern, dass ihr die absehbaren Katastrophen nicht auf die Füße fallen. Drittens gilt es eine langfristige Zusammenarbeit mit der SPD aufzubauen.
Für die Oberbürgermeisterwahl bedeutet dies, dass es klug wäre, eine gemeinsame Kandidatin bzw. einen Kandidaten mit der SPD zu finden. Klug wäre es auch, sich mit der SPD bei der Bundestagswahl auf je einen Direktkandidaten pro Wahlkreis zu einigen. Es würde die Vorherrschaft der CDU bei den Direktmandaten und den Überhangmandaten brechen. Doch sind die Grünen klug? Und ist dieser Drahtseilakt zu schaffen? Ich würde es ihnen wünschen, doch die Zweifel wachsen.
Wolfgang Schorlau gilt als einer der besten deutschen Autoren für politische Kriminalromane. Er lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet.
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