Nächtliche Straßenszene in London

BERICHT Fünf zerlumpte Bündel vor dem verschlossenen Tor des Obdachlosenasyls. Vom Skandal der Armut

■ In den 1850er Jahren leitete Charles Dickens die britische Zeitschrift Household Words, seine Verleger hatten ihm angeboten, die Zeitschrift ganz nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Er nahm darin manches vorweg, was heutzutage unter dem Begriff „Feuilleton“ firmiert, vor allem den Anspruch, zugleich wissensgesättigt und unterhaltsam zu schreiben. Diesen Bericht publizierte Dickens in der Zeitschrift am 26. Januar 1856. Die Armut und der gesellschaftliche Umgang damit gehören zu den Themen, die er lebenslang verfolgte.

■ Charles Dickens wurde am 7. Februar 1812 geboren, also am kommenden Dienstag vor 200 Jahren. Er war einer der fruchtbarsten Autoren seiner Zeit und schrieb einige der berühmtesten Romane der Weltliteratur: „David Copperfield“, „Oliver Twist“, „Great Expectations“. Am 9. Juni 1870 starb er.

■ Wir entnehmen den Text mit freundlicher Genehmigung des Verlages dem Band „Charles Dickens: Reisender ohne Gewerbe. Nachtstücke“, der in diesen Tagen in der Textura-Reihe beim C. H. Beck Verlag erscheint, 128 Seiten, 14,95 Euro, herausgegeben und aus dem Englischen von Melanie Walz. Die „Nächtliche Straßenszene in London“ erscheint darin zum ersten Mal auf Deutsch.

VON CHARLES DICKENS

Am fünften November vergangenen Jahres verirrte ich, der Leiter dieser Zeitschrift, mich in Begleitung eines dem Publikum wohlbekannten Freundes zufällig nach Whitechapel. Es war ein scheußlicher Abend, sehr finster, sehr nass und schmutzig, und es regnete stark.

Dieser Teil Londons ist voller herzzerreißender Anblicke, und seit vielen Jahren kenne ich ihn in fast all seinen Erscheinungsformen. Wir achteten nicht mehr auf Schmutz und Regen, während wir langsam dahinwanderten und uns umsahen, bis wir um acht Uhr unversehens vor dem Armenhaus anlangten.

An der Mauer des Armenhauses, auf der dunklen Straße, auf den schmutzigen Pflastersteinen und dem Regen ausgesetzt, kauerten fünf Bündel aus Lumpen. Sie waren reglos und hatten keine Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper. Fünf große Bienenstöcke, mit Lumpen bedeckt, fünf Leichname, aus dem Grab hervorgeholt, an Hals und Füßen zusammengebunden und mit Lumpen bedeckt, hätten nicht anders ausgesehen als diese fünf Bündel, auf die der Regen auf dieser öffentlichen Straße herabregnete.

„Was mag das sein?“, sagte mein Begleiter. „Was mag das sein!“

„Irgendwelche Bedauernswerten, die nicht in das Obdachlosenasyl aufgenommen wurden, vermute ich“, sagte ich.

Wir waren vor den fünf abgerissenen Haufen stehen geblieben und standen da wie angewurzelt, von ihrem schaurigen Anblick gefesselt. Fünf grauenhafte Sphinxgestalten am Wegesrand, die jedem Vorbeikommenden zuriefen: „Verweile und rate! Wie wird das Ende einer Gesellschaft beschaffen sein, die uns hier unserem Schicksal überlässt!“

Als wir dastanden und sie ansahen, berührte mich ein ehrbarer Arbeiter, offenbar ein Steinmetz, an der Schulter.

„Das ist ein fürchterlicher Anblick“, sagte er, „in einem christlichen Land!“

„Das ist es weiß Gott, mein Freund“, sagte ich.

„Ich habe oft schon Schlimmeres als das gesehen, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam. Ich habe schon fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig von ihnen gezählt, oft genug. Es ist schrecklich, so etwas zu sehen.“

„Schrecklich in der Tat“, sagten ich und mein Gefährte wie aus einem Mund. Der Mann verharrte noch kurze Zeit bei uns, wünschte uns dann eine gute Nacht und ging weiter.

Uns, die wir bessere Aussichten auf Gehör hatten als der Arbeiter, wäre es herzlos erschienen, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, und deshalb klopften wir an das Tor des Armenhauses. Ich wollte für uns sprechen. Sobald ein alter Armenhäusler das Tor öffnete, folgte ich ihm geschwind, gefolgt von meinem Gefährten. Ich verlor keine Zeit, denn im wässrigen Auge des alten Armenhäuslers sah ich die entschiedene Neigung, uns die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

„Seien Sie so freundlich, dem Leiter des Armenhauses diese Karte zu geben und ihm zu sagen, dass ich ihn gerne für einen Augenblick sprechen würde.“

Wir befanden uns in einer überdachten Einfahrt, und der alte Pförtner entfernte sich mit der Karte. Bevor er eine Tür zur Linken erreichte, kam ein Mann in Übermantel und Hut eilends und schroff heraus, als wäre er es gewohnt, jeden Abend schikaniert zu werden und diese Artigkeit in gleicher Weise zu erwidern.

„So, meine Herren“, sagte er ziemlich laut, „was wünschen Sie hier?“

„Zuerst“, sagte ich, „bitte ich Sie um den Gefallen, die Karte in Ihrer Hand anzusehen. Vielleicht ist Ihnen mein Name bekannt.“

„Ja“, sagte er, indem er sie ansah. „Ich kenne den Namen.“

„Gut. Ich möchte Sie nur in höflichem Ton etwas fragen, und es gibt keinen Anlass für Sie oder mich, in Zorn zu geraten. Es wäre sehr töricht von mir, Ihnen Vorwürfe zu machen, und ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Ich mag an dem System, das Sie vollstrecken, manches auszusetzen haben, aber Sie dürfen mir glauben, dass ich weiß, dass Sie hier eine Pflicht erfüllen, die Ihnen zugewiesen wurde, und dass ich Ihre Pflichterfüllung nicht anzweifle. Und ich hoffe, Sie haben jetzt nichts dagegen, mir zu sagen, was ich gerne wissen würde.“

„Nein“, sagte er einigermaßen besänftigt und sehr friedfertig, „nicht das Geringste. Was wollen Sie wissen?“

„Wissen Sie, dass draußen fünf jämmerliche Gestalten warten?“

„Ich habe sie nicht gesehen, aber kann es mir denken.“

„Zweifeln Sie daran?“

„O nein, keineswegs. Es könnten wesentlich mehr sein.“

„Sind es Männer? Oder Frauen?“

„Frauen, nehme ich an. Sehr wahrscheinlich waren einige von ihnen schon letzte und vorletzte Nacht dort draußen.“

„Wollen Sie sagen, die ganze Nacht?“

„Sehr wahrscheinlich.“

Mein Begleiter und ich wechselten einen Blick, und der Leiter des Armenhauses fügte schnell hinzu: „Um Himmels willen, was soll ich denn tun? Was kann ich denn tun? Das Haus ist voll. Das Haus ist immer voll, jede Nacht. Ich muss schließlich Frauen mit Kindern Vorrang einräumen, oder etwa nicht? Sie würden doch nicht verlangen, dass ich anders handle?“

„Gewiss nicht“, sagte ich. „Das ist ein sehr menschliches Prinzip und völlig richtig; und ich freue mich, Sie so sprechen zu hören. Vergessen Sie bitte nicht, dass ich Ihnen keine Vorwürfe mache.“

„Nun gut!“, sagte er. Und wurde wieder friedlich.

„Was ich Sie gern fragen würde“, fuhr ich fort, „ist, ob Sie irgendetwas Nachteiliges über die fünf jammernswerten Wesen dort draußen wissen?“

„Ich weiß gar nichts über sie“, sagte er mit einer Armbewegung.

„Ich frage das aus diesem Grund: weil wir ihnen eine Kleinigkeit geben wollen, damit sie sich eine Unterkunft besorgen können – falls sie nicht obdachlos sind, weil sie zum Beispiel Diebinnen wären. Wissen Sie etwas Derartiges über sie?“

„Ich weiß gar nichts über sie“, wiederholte er nachdrücklich.

„Das heißt, sie sind nur deshalb ausgeschlossen, weil das Asyl überfüllt ist?“

„Weil das Asyl überfüllt ist.“

„Und wenn sie Einlass fänden, dann hätten sie nur für eine Nacht ein Dach über dem Kopf und morgens ein Stück Brot, nehme ich an?“

„So ist es. Entscheiden Sie selbst, wie viel Sie ihnen geben wollen. Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass ich nicht mehr über sie weiß als das, was ich Ihnen gesagt habe.“

„Genau. Mehr wollte ich nicht wissen. Sie haben meine Frage höflich und bereitwillig beantwortet, und ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich habe nichts gegen Sie zu sagen, sondern ganz im Gegenteil. Gute Nacht!“

„Gut Nacht, meine Herren!“ Und wir traten wieder hinaus.

Wir gingen zu dem zerlumpten Bündel, das der Tür zum Armenhaus am nächsten war, und ich berührte es. Da es sich nicht regte, schüttelte ich es sanft. In den Lumpen regte sich langsam etwas, und allmählich wurde ein Kopf enthüllt. Der Kopf einer jungen Frau von dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahren, wie mir scheinen wollte; hager vor Entbehrungen und schmutzstarrend, doch nicht von Natur aus hässlich.

„Sagen Sie uns“, sagte ich und beugte mich zu ihr, „warum liegen Sie hier?“

„Weil ich nicht in das Armenhaus rein kann.“

Sie sprach leise und tonlos; keine Neugier, kein Interesse beseelten sie mehr. Sie blickte verträumt zu dem schwarzen Himmel und dem fallenden Regen, ohne mich oder meinen Gefährten anzusehen.

„Waren Sie letzte Nacht auch hier?“

„Ja. Die ganze letzte Nacht. Und die Nacht davor auch.“

„Kennen Sie eine der anderen?“

„Ich kenne die übernächste. Sie war letzte Nacht hier, und sie hat mir erzählt, dass sie aus Essex kommt. Mehr weiß ich nicht von ihr.“

„Sie waren alle letzte Nacht hier, aber nicht den ganzen Tag?“

„Nein. Nicht den ganzen Tag.“

„Wo waren Sie am Tag?“

„Auf den Straßen.“

„Was hatten Sie zu essen?“

„Nichts.“

„Kommen Sie!“, sagte ich. „Überlegen Sie. Sie sind müde und waren eingeschlafen und wissen nicht recht, was Sie da sagen. Sie müssen heute etwas zu essen gehabt haben. Kommen Sie! Überlegen Sie!“

„Nein, ich hatte nichts. Nichts als die Abfälle, die ich auf dem Markt aufgelesen hab. Sehen Sie mich doch an!“

Sie entblößte ihren Hals, und ich bedeckte ihn wieder.

„Wenn Sie einen Shilling für ein Nachtessen und ein Nachtquartier hätten, wüssten Sie dann, wo Sie so etwas finden könnten?“

„Ja. Das wüsste ich.“

„Dann nehmen Sie ihn um Gottes willen!“

Ich legte ihr das Geld in die Hand, und sie erhob sich kraftlos und ging fort. Sie dankte mir nicht und sah mich nicht an, sondern verflüchtigte sich in der elenden Nacht auf die sonderbarste Weise, die ich je sah. Ich habe viele sonderbare Dinge zu sehen bekommen, aber nichts hat je einen tieferen Eindruck in meinem Gedächtnis hinterlassen als die stumpfe, teilnahmslose Art und Weise, in der dieses zermürbte Häufchen Elend das Geldstück nahm und verschwand.

Eine nach der anderen sprach ich alle fünf an. In jeder von ihnen waren Interesse und Neugier so erloschen wie in der ersten. Sie waren allesamt stumpf und schlaff. Keine äußerte ein Wort der Beteuerung oder der Klage; keine gab sich die Mühe, mich anzusehen; keine dankte mir. Als ich zu der dritten kam, sah sie, dass mein Begleiter und ich zu den zwei letzten blickten, die im Schlaf aneinanderlehnten und dalagen wie zerbrochene Bildwerke. Sie sagte, sie glaube, es seien junge Schwestern. Das waren die einzigen Worte, die eine der fünf von sich aus sagte.

Und nun lassen Sie mich diesen schrecklichen Bericht mit einem versöhnlichen und bewundernswerten Zug der Ärmsten der Armen beschließen. Als wir aus dem Armenhaus kamen, waren wir über die Straße zu einem Wirtshaus gegangen, um einen Sovereign wechseln zu lassen, weil wir kein Kleingeld bei uns hatten. Ich hielt das Geld in der Hand, während ich zu den fünf Erscheinungen sprach. Unser eindringliches Interesse weckte die Neugier vieler jener Armen, die für diese Gegend so bezeichnend sind; als wir uns über die Lumpenbündel beugten, beugten sie sich hinter uns neugierig vor, um alles mitanzusehen und mitzuhören; was ich in der Hand hielt und was ich sagte und tat, muss der ganzen Zuhörerschaft ersichtlich gewesen sein. Als die letzte der fünf aufgestanden und verschwunden war, traten die Zuschauer auseinander, um uns den Weg freizumachen; und keiner von ihnen bettelte uns an, weder mit Worten noch mit einem Blick oder einer Geste. Manche der Gesichter, die uns beobachteten, waren gewitzt genug, um zu wissen, dass es uns erleichtert hätte, das restliche Geld loszuwerden in der Hoffnung, damit ein wenig Gutes zu tun. Doch sie alle standen unter dem Eindruck, dass ihre Not sich mit einem solchen Anblick nicht vergleichen ließ; und sie traten in tiefem Schweigen beiseite und ließen uns gehen.

Mein Gefährte schrieb mir am nächsten Tag, dass die fünf zerlumpten Bündel die ganze Nacht auf seinem Bett gelegen hätten. Ich zerbrach mir den Kopf, wie wir unser Zeugnis dem der vielen anderen hinzufügen konnten, die sich von Zeit zu Zeit gedrängt fühlen, an die Zeitungen zu schreiben, wenn sie auf einen schändlichen und erschreckenden Anblick dieser Art stoßen. Ich beschloss, in dieser Zeitschrift einen wahrheitsgetreuen Bericht dessen zu schreiben, was wir erlebt hatten, damit jedoch bis nach Weihnachten zu warten, um kühlen Kopfs und überlegt vorzugehen. Ich weiß, dass die unvernünftigen Anhänger einer vernünftigen Denkungsweise, die Zahlen und politische Ökonomie bis weit über die Grenzen jeder Vernunft (von solchen Schwächen wie der Menschlichkeit ganz zu schweigen) treiben und darin das Allheilmittel schlechthin sehen, mit Leichtigkeit darlegen können, dass solche Dinge nun einmal sein müssen und dass niemand das Recht hat, daran Anstoß zu nehmen. Ohne den Sinn dieser unverzichtbaren Wissenschaften schmähen zu wollen, sage ich, dass ich sie in ihrem Irrsinn zutiefst verabscheue und von mir weise; und ich wende mich an diejenigen, die den Geist des Neuen Testaments achten, die an solchen Dingen Anstoß nehmen und die sie als eine Schande auf unseren Straßen erachten.