Die Weichen für die Zukunft biegen

WIEDERERKENNUNG Jammerossi gegen Besserwessi: Mitten aus der Realität gegriffen scheint Lutz Hübners Elternabendstück „Frau Müller muss weg“, das Sönke Wortmann am Berliner Grips-Theater inszeniert hat

Bei den Eltern hört die Solidarität auf, wenn es um das Wohl der eigenen Kinder geht

VON JULIA NIEMANN

Die alte Tante Grips-Theater hat sich am Samstagabend als Schulgebäude verkleidet. Überall hängen Gemälde von Schülern, Kritzeleien, „Kaugummifreie Zone“-Schilder. Die Bühne ist ein Klassenzimmer. Darin hocken auf den Kinderstühlen fünf Erwachsene inmitten der „Herbstprojekt“-Dekoration: die besorgten Eltern einer Schulklasse aus Berlin-Mitte, die mehr Angst vor dem Halbjahreszeugnis und der weiterführenden Schulempfehlung haben als ihre Kinder. Sie haben die Klassenlehrerin Frau Müller um einen Termin gebeten, denn etwas läuft gerade gar nicht nach Plan: Der Sprung aufs Gymnasium ist für die Kinder gefährdet, die Noten diverser Schüler sind dramatisch abgesackt.

Schuld daran trägt – darin sind sich die ansonsten sehr verschiedenen Eltern einig – Frau Müller, deren pädagogisches Konzept und psychische Belastbarkeit fragwürdig zu sein scheinen. Dass die Frau weiß, was sie tut, und die Schüler ihre schlechten Noten vielleicht verdient haben – zu so viel kritischer Distanz sind die Eltern kaum fähig, und selbst wenn: Mit der anstehenden Schulentscheidung werden die Weichen für die Zukunft gestellt; daher geht es letztendlich nur darum, die Gören einfach durchzukriegen. Und somit steht der Beschluss der Elternschaft fest: Frau Müller muss weg.

Das gleichnamige Stück des Autors Lutz Hübner ist seit 2010 an 15 Bühnen inszeniert worden und hatte am Samstag am Grips-Theater unter der Regie von Sönke Wortmann Premiere. Der arbeitet ansonsten recht erfolgreich als Filmregisseur und jetzt zum ersten Mal für eine Berliner Bühne. Er hat selbst drei Kinder und den Witz des Mikrokosmos Elternabend sofort verstanden. „Jeder dieser fünf Charaktere hat in gewisser Weise recht, aber auch unrecht. Die einzige Person mit Integrität ist letztendlich aber die Lehrerin“, sagt er.

Da sind die Eltern von Lukas, die sich an diesem Abend vor aller Augen voneinander trennen, so sehr entzweien sie sich über diese Stresssituation. Die Mutter Marina Jeskow, im trutschigen Rolli mit Perlenkette, ist vor lauter „Gutmenschenweltsicht so zugedröhnt“, dass sie nicht in der Lage ist zu akzeptieren, dass ihr Sohn ein um sich schlagender „Klassenkasper mit ADS“ ist, der den Unterricht massiv stört. Lieber beschimpft sie ihren Mann Patrick (Roland Wolf) als Macho und Arschkriecher. Der verbündet sich mit der von Katja Hiller wunderbar fies gespielten, toughen Businessmutti Jessica. „Wenn Frauen klug und hübsch sind und dann auch noch die Chuzpe haben, eine Ansage zu machen, dann wird das häufig nicht so positiv aufgenommen, besonders nicht von anderen Frauen“, beschreibt Hiller ihre Rolle. Jessica ist die einzige der Eltern, die erkennt, dass ihre Tochter nicht die „hellste Kerze im Leuchter“ ist.

Zu solchen Reflexionen ist der Jammerossi Vater von Janine, Wolf (René Schubert), nun so gar nicht in der Lage. Er taumelt von einem selbstmitleidigen Monolog zum nächsten und trauert seiner Affäre mit der alleinerziehenden Mutter vom Klassenbesten, Katja (Nina Reithmeier), hinterher: „Andere Leute mit Kindern haben doch auch Affären!“ Da lacht das Publikum sehr laut. Abgesehen von solchen Pointen ist die Komödie von Wortmann aber nicht klamaukig angelegt, sondern nimmt den Stress der echauffierten Eltern und der angegriffenen Lehrerin durchaus ernst. Die von Regine Seidler ziemlich laut und autoritär gespielte Frau Müller ist nicht unbedingt ein Sympathieträger, aber eine Instanz, die eine gewisse Ethik vertritt: „Ich bin eine Angestellte im öffentlichen Dienst und nicht Ihr Dienstmädchen!“

Bei den Eltern hört, wenn es um das Wohl der eigenen Kinder geht, die Solidarität auf. Wie auch in Roman Polanskis jüngstem Film, „Der Gott des Gemetzels“, machen die Eltern sich gegenseitig nieder. „Ich kenne das Szenario von Elternabenden in Berlin-Mitte“, sagt Autor Lutz Hübner über sein Stück. „Die Wessis beschweren sich ständig und sofort, die Ossis finden die Westkinder völlig verzogen.“ Wer den Druck in den vierten und sechsten Klassen und den Kampf um die begehrte Gymnasialempfehlung miterlebt hat, weiß, dass Schule längst kein Raum für Selbstfindung, Ausprobieren und Lernprozesse mehr ist, sondern nichts als ein ständiger Wettkampf für die spätere Karriere. Wenn Lehrer das vermeintliche Potenzial der Kinder nicht erkennen, wird ihre Kompetenz infrage gestellt und auf Elternabenden bis in die Nacht diskutiert. Weil das groteske Gebaren im Ringen um die besten Chancen so viele Lehrer, Schüler und alle Eltern mit schulreifen Kindern kennen, wird dieser Abend mit tosendem Applaus honoriert: einfach mal lachen über diesen ganzen traurigen Wahnsinn.

■ Wieder am 7., 24. und 25. 2. im Grips-Theater