Vom Nutzen der Abgrenzung

KULTURGESCHICHTE Boheme und Prekariat, Utopie und Armut: Eine Tagung in Siegen galt der „Aktualität der Boheme nach 1968“

Der marxistisch geschulten Studentenschaft erschien die Boheme noch als lumpiges Gesindel

Ob ein Glas halb voll ist oder halb leer, ob etwas neu ist oder alt; darüber entscheidet nicht zuletzt die Perspektive. Gegenwärtig jedenfalls ist das Glas halb leer beziehungsweise ist alles alt. Nichts ist neu und alles gab’s schon mal. Retromania!

An der Universität Siegen wurde nun über die „Aktualität der Boheme nach 1968“ diskutiert. Die mit dem Jahr 1968 gesetzte Zäsur dieser von der Romanistin Walburga Hülk-Althoff und dem Germanisten Georg Stanitzek veranstalteten Tagung hat ihren Grund: Der Literaturwissenschaftler Helmut Kreuzer hatte die Boheme 1968 als sozialgeschichtliche Kategorie gesetzt. In seiner bis heute maßgeblichen Studie öffnete Kreuzer den Begriff Boheme für die Popkultur, in dem er Beatniks, Hippies, und Künstler in die Tradition der in den urbanen Zentren des 19. Jahrhunderts entstehenden antibürgerlichen „Subkultur von intellektuellen Randgruppen“ stellte.

Dass der Boheme-Begriff weiter positiv besetzt ist, bezeugen Bezeichnungen wie digitale Boheme und Ökoboheme. Es ist allerdings ebenso offensichtlich, dass beide Milieus gefährlich nahe an das herankommen, wovon sich die traditionelle Boheme eigentlich unterschied – dem Spießertum nämlich. Während diese Beispiele beweisen, dass die Boheme als Abgrenzungsbegriff in Stellung gebracht wird gegen Angestellte beziehungsweise Arme, verdeutlichte der Literaturwissenschaftler Jan-Frederik Bandel anhand des Beispiels der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung, wie eine bürgerlich romantische Vorstellung der bohemischen Lebensweise für die Imagination von Gemeinschaft wieder benutzt wird. Man verlangt nach „Kaschemmen“, „Wildwuchs“ „Orten der Leidenschaft“. Merkwürdige Überschneidungen mit der Prosa des Stadtmarketing würden dabei unkritisch übergangen.

Der Soziologe Wolfgang Eßbach (Freiburg) fragte ganz grundsätzlich nach den Bedingungen der Möglichkeit bohemischer Identität. In den Augen der marxistisch geschulten Studentenschaft der 1960er erschien die Boheme mit ihrer Abneigung gegenüber dem Proletariat noch als lumpiges Gesindel. Erst mit den subkulturellen Fraktionierungen in den folgenden Jahrzehnten, so Eßbach, begann die Karriere der Boheme. Seiner Definition der Boheme als „Ansammlung von Abweichungen“ folgte auch Gabriele Dietze (Berlin), die den Begriff für den Second-Wave-Feminismus fruchtbar machte. In den Filmen Ulrike Ottingers oder im Selbstverständnis feministischer Publikationsorgane wie der Schwarzen Botin stelle die Ablehnung des feministischen Mainstreams und seiner von-Frauen-für-Frauen-Mentalität ein zentrales Element der Identitätspolitik bereit.

Für den FAZ-Redakteur Jürgen Kaube hingegen sind Abweichungen längst nicht mehr konstitutiv für bohemische Milieus. In Zeiten des „kulturellen Allesfressertums“ und dem Verschwimmen der Grenzen von High und Low Culture ließe sich über ästhetische Präferenzen längst kein Dinstinktionsgewinn mehr einfahren. Chancen für die gegenwärtige Boheme sieht Kaube allein in der Mode, wo Abweichung und Normalität zum selben Programm gehörten. Hier sei Raum für die „Reform-Elite“, die vormacht, was andere dann nachmachen.

Kaubes Argumentation übersieht, dass es der Boheme immer schon um mehr ging, als Distinktionsfunken zu schlagen. Zentral für die Boheme war seit je der Anspruch auf ein besseres Leben jenseits ökonomischer Verwertungszusammenhänge. Diedrich Diederichsen nannte das ein „existenzielles Besserwissen“ der in Armut Lebenden. Einer zeitgenössischen Boheme müsse es also wiederum um Fraktionierungen, um Abschottungen, Entnetzungen gehen.

Bohemisierung von oben muss man es nennen, wenn prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse auf Dauer gestellt sind und nicht mehr als Wahlmöglichkeit offenstehen. Auch die „symbolische Aggression“ der Boheme (Helmut Kreuzer) läuft unter Individualisierungszwängen ins Leere. Paradigmatisch steht dafür der Hipster, der allenfalls ein Zombie des Bohemians ist. Sein Habitus ist ihm zum reinen Tauschmittel geworden.

Man könnte hier natürlich auch vom Untergang der Boheme sprechen. Viel wichtiger ist aber eine ideologiekritische Perspektive auf die kommerzielle und romantische Überformung der Boheme. Das wäre dann wieder eine Frage der Perspektive. PHILIPP GOLL