Gesunde Kinder werden seltener

Krankhafte Fettsucht, Bewegungsstörungen, Altersdiabetes: Gerade mal jedes zweite Essener Grundschulkind ist völlig gesund. Angesichts leerer Stadtkassen kuriert Essen mit Netzwerken

von MIRIAM BUNJES

Essens Kinder leben ungesund: 3.000 der rund 5.500 GrundschülerInnen haben die Amtsärzte nach der Einschulungsuntersuchung gleich weiter geschickt. Die Fünf- bis Sechsjährigen brauchen therapeutische Hilfen, um Entwicklungsstörungen aufzuholen oder vorzeitige Alterserscheinungen vorzubeugen. „Immer mehr Kinder haben schon jetzt Diabetes Typ II entwickelt“, sagt Essens Amtsarzt Rainer Kundt. „Eigentlich eine Alte-Leute-Krankheit, ebenso wie Herz- und Kreislaufschwächen, die wir auch bei vielen angehenden Grundschülern festgestellt haben.“

Die medizinischen Ursachen dieses Phänomens sind eindeutig: Zu wenig Bewegung, zu viel fettes und gezuckertes Essen. Auch über die sozialen Ursachen muss angesichts der Wohnorte der Kinder nicht viel spekuliert werden: 75 Prozent der Kinder leben im Essener Norden, wo – wie in fast allen Ruhrstädten – die Armen wohnen. Den Zusammenhang zwischen Kinderarmut und schlechtem Gesundheitszustand haben die Sozialforscher des Zentrums für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung schon vor Jahren speziell für die Stadt Essen ermittelt.

„Wir haben es hier zum größten Teil mit einem Armutsproblem zu tun“, weiß deshalb auch Sigrid Schönberger (SPD), Kinderbeauftragte des Stadtrates. „Die wirtschaftliche Situation der Eltern können wir nicht ändern, wir können aber mehr für die Kinder aus dem Norden tun.“

Die für Mitte nächsten Jahres geplante so genannte Frühförderstelle soll deshalb im Norden eingerichtet werden. „Gerade für sozial schwächere Familien ist ein niedrigschwelliges Angebot vor Ort wichtig, weil sie sonst vielleicht gar keine Hilfe erreicht“, sagt Rainer Kundt. „Die Mitarbeiter der künftigen Förderstelle sollen die Kinder und ihre Eltern aber auch zu Hause aufsuchen, wenn sie von Schulen und Kinderärzten Hinweise auf eine Gesundheitsstörung erhalten haben.“

In der Förderstelle sollen die Kinder hauptsächlich heilpädagogisch therapiert werden: Je nach Befund werden spezielle Gymnastikübungen oder der Wortschatz trainiert. Außerdem soll auch Essens überlastetes Sozialpädiatrisches Zentrum wieder arbeitsfähiger werden: „Wir hoffen, dass so die Wartezeiten für eine Behandlung auf vier Monate verkürzt werden können.“

Bis Ende 2008 soll sich die Situation der Essener Kinder deutlich verbessert haben: Bis Ende 2008 soll die Zahl der auffälligen Kinder um zwei Prozentpunkte pro Jahr fallen, hat das Gesundheitsdezernat festgeschrieben. Das Problem dabei: Auch die Stadt Essen ist arm. „Wir müssen die Kompetenzen in dieser Stadt mehr vernetzen“, sagt Sigrid Schönberger. „Kinderärzte, Kindertagesstätten und die verschiedenen sozialen Dienste müssen enger zusammenarbeiten. Dazu braucht man nicht zwangsläufig öffentliches Geld, dafür kann die Frühförderstelle als organisatorisches Dach dienen.“ Im Idealfall soll so ein Frühwarnsystem entstehen: Wenn eine Ärztin im Kreißsaal den Eindruck bekommt, mit dem Kind und seiner Familie stimmt etwas nicht, kann sie das an die Frühförderstelle weitergeben und das Kind wird schon in den ersten Lebenswochen optimal unterstützt.

Schönberger will durch die Netzwerke auch die Eltern aufklären: „Ich glaube, es ist vielen gar nicht bewusst, was schlechtes Essen mit Kindern machen kann.“

Der Erfolg wird allerdings auf sich warten lassen, sagt Amtsarzt Kundt. „Das sind ja alles Maßnahmen, die langfristig wirken.“ Für einige Projekte müssen die Sponsoren auch noch gefunden werden. „Wir planen immer vor dem Hintergrund der Finanzlage der Stadt“, so die neue Gesundheitsdezernentin Gudrun Hock. „Deshalb sind wir auf Unterstützung angewiesen.“ Um den kranken SchülerInnen gesundes Essen in den Schulen zu bieten, wirbt die Stadt deshalb um freiwillige Helfer und Sponsoren.