„Lauf schneller, Johanna!“

Kinder stehen heutzutage unter Generalverdacht, sich zu wenig zu bewegen. Dabei haben eigentlich die Erwachsenen hier die größten Defizite. Und Kinder, die Spaziergänge verweigern, sind im Recht

von Kaija Kutter

„Ich hasse Sport“, sagt die siebenjährige Johanna. Die Mutter ist erstaunt – vor einem Jahr war Sport noch Johannas Liebstes – und fragt nach. „Weil wir da wieder Laufen üben, für den Stadtteillauf.“ „Da machst du doch gar nicht mit.“ „Trotzdem muss ich üben. Und die Lehrerin hat neulich gesagt, ‚Johanna, lauf schneller!‘“

Auch die Vorbereitung auf die Bundesjugendspiele ist der Tochter ein Gräuel, kommt nun heraus. Das Trainieren eines Aufschwungs am Reck, genau nach Vorschrift, mag sie nicht. Dabei turnt sie nachmittags in der Kita immer gern an der Stange, ruft „Guck mal, Mama, was ich schon kahann!“ und schwingt elegant vornüber.

Nur ist das dann wohl selbstbestimmt, überlegt die Mutter, die kurz darauf den Auftrag erhält, zu schreiben, wie man Kinder dazu bringt, sich zu bewegen.

Komische Frage! Genaugenommen bewegen sich Kinder permanent. Fangen beispielsweise spielen sie ohne Unterlass, wenn erst mal die kritische Menge von mindestens zwei Kindern in einem Haushalt zusammen ist. Nur ist deren geballte Energie, wenn sie durch die Räume wirbeln, für Erwachsene kaum ohne „Pass auf“-Geschimpfe auszuhalten. Kinder, die man lässt, klettern auf Schränke und Regale, spielen „nicht den Boden berühren“, hüpfen über Sofas oder rutschen jedes verfügbare Geländer herunter. Und die Erwachsenen, die dabei sind, kriegen die Krise.

Nichts wie raus, einen Ausflug machen, mit dem Rad. Töchterchen hat schon, seit es drei ist, immer eins in der passenden Größe, sogar mit Gangschaltung. Aber Radtouren findet Johanna ermüdend, auf dem Rückweg will sie geschoben werden. Das gilt auch für Spaziergänge zum Ortszentrum und zurück: Auf den letzten Metern nach Hause wird stets „ich kann nicht mehr“ gejammert. Es sei denn, Mutter und Tochter trödeln Häuser betrachtend durch die Gegend und sammeln Blätter oder Steinchen.

Die Unlust des Kindes an strikter Geradeausbewegung hat einen Grund, den der leitende Mototherapeut vom Hamburger Institut Coburger, Rupert Schoch, erhellen kann. „Kinder bewegen sich in der Stadt wie auf Schienen“, sagt er, weil sie immer auf vorgebahnten Wegen wie Bürgersteig und Ampelübergang gehen müssen. Und das sei schlecht, weil es ihnen die Gelegenheit nehme, den Raum als Ganzes zu erfassen. „Wir Erwachsenen haben immer die Vorwärtsbeschleunigung zum Ziel“, erklärt er. Egal ob Inline-Skaten, Joggen oder Nordic-Walking, immer gehe es nur um die schnelle Bewegung nach vorn.

Eher skeptisch sieht er deshalb auch die jüngste Entwicklung auf dem Kinderfahrzeugmarkt, die „Laufräder“ ohne Pedale. „Die Kinder können dort in aufrechter Haltung sitzend beschleunigen“, bemerkt Schoch. Was den Erwachsenen beim Spazierengehen mit dem trödeligen Nachwuchs wohl entgegen kommt. „Dies bedeutet aber eine Stilllegung des Oberkörpers.“ Angemessen wäre für anderthalb- bis zweieinhalbjährige Kinder, dass sie mit ihren Bewegungen den ganzen Raum ausfüllen und auch krabbeln, rollen und toben.

Trotzdem verkauft sich gerade in gebildeteren Schichten jedwede Neuheit, die gezielte Bewegungförderung des Nachwuches verspricht, sehr gut. Denn seit sich Anfang der 90er Jahre Meldungen über Kinder mit motorischen Defiziten, die nicht mal mehr rückwärts gehen können, häuften, steht die junge Generation unter Generalverdacht. Doch Experten wie Schoch mahnen, dass es die Erwachsenen sind, die zu eintönige Bewegung vorleben. War Kaffekochen beispielsweise vor 50 Jahren vom Holz splitten bis zum Pulver mahlen noch ein Prozess mit „ganz vielen Bewegunsgformen“, reicht heute der Knopfdruck. „Es gibt kaum noch echte Bewegung“, moniert Schoch, sie wurde wegorganisiert. „Und diese Welt hat Kinder, die sich bewegen wollen.“

Eine Antwort ist eine Fülle von bewegungspädagogischem Spielzeug, Fahrzeugen und Förderangeboten. Schoch sieht dabei die Gefahr, dass auch hier wieder zu 90 Prozent den Kindern die Bewegung vorgeschrieben wird. „Selbst wenn ich mit ihnen ein Schwungtuch bewege, erwarte ich, dass die ganz toll schwingen.“ Auch bei Singspielen müssen nach Ansage eines Pädagogen Hände, Beine oder Arme gehoben werden. Die Botschaft, so Schoch, lautet: „Bitte bewege dich so, wie ich es dir vorschreibe.“ Kinder bräuchten aber offene Räume, wie die autofreie Spielstraße, statt perfekt vorgeschriebener Bewegungspädagogik. Schoch: „Wir sollten darauf vertrauen, dass Kinder zu ihrer Bewegung finden.“

Ganz unnütz ist dafür der eingangs erwähnte Schulsport wohl doch nicht. Wenn der Stadtteillauf und die Bundesjugendspiele vorbei sind, sagt Johanna, „mag ich Sport wieder“. Dann gibt es wieder „Spiegelticken“, „Mohrrübenziehen“ und andere Fangspiele, die sie sehr liebt und in der Pause und zu Hause ausgiebig nachspielt.