Hohn und Spott der Untertanen

KUNDGEBUNG In Moskau gehen 100.000 Menschen trotz klirrender Kälte für faire Wahlen und gegen eine dritte Amtszeit von Wladimir Putin im Kreml auf die Straße

■ Zum ersten Mal machten am Samstag auch die Anhänger von Wladimir Putin mobil. Nach offiziellen Angaben gingen 140.000 Menschen für Putin auf die Straße. Unabhängige Medien schätzten die Zahl jedoch auf nicht mehr als 70.000. Vor allem Bedienstete von Staatsunternehmen, Ärzte und Lehrer protestierten, oft unfreiwillig, bei der vom Kreml inszenierten Gegenkundgebung: „Chaos – nein, Putin – ja!“, „Putin! Russland! Sieg!“ und „NEIN zur Revolution“ war auf Transparenten zu lesen. Viele hatten sich im Internet und in den Medien beschwert, dass sie von ihren Dienstherren zur Teilnahme gezwungen und ihnen Sanktionen bei Nichterscheinen angedroht worden seien. Viele Putin-Fans waren in der generalstabsmäßig geplanten Aktion mit Bussen aus der Umgebung nach Moskau gebracht worden.

■ Am 4. März wird ein neuer Kreml-Chef gewählt. Neben Putin kandidieren der Geschäftsmann Michail Prochorow, der Kommunist Genadi Sjuganow, der Nationalist Wladimir Schirinowski und Sergei Mironow, Exvorsitzender des russischen Föderationsrats. Der liberale Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski darf nicht antreten. Angeblich seien 24 Prozent der nötigen zwei Millionen Unterstützungsunterschriften ungültig, so die Wahlkommission.

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

„Nun hat er auch noch den Wettergott auf seiner Seite“, flucht eine ältere Frau, als sie aus der Metro auf den Oktjabrskaja-Platz hinaustritt. Sie zieht die Pelzmütze tiefer, wickelt den Schal enger und fummelt noch ein Paar Pelzfäustlinge über die Wollhandschuhe. Mit „er“ meint sie Wladimir Putin, den Premier und Präsidentschaftskandidaten, gegen den seit den Wahlfäschungen bei den Dumawahlen im Dezember immer mehr Menschen auf die Straße gehen. Das Thermometer steht auf minus 20 Grad. Vereinzelte Sonnenstrahlen wärmen nicht, heben aber die Stimmung. Russlands oberster Amtsarzt warnte die Bevölkerung davor, sich den Gefahren einer Unterkühlung beim Demonstrieren auszusetzen. Auch der Patriarch der orthodoxen Kirche ließ durchblicken, dass der klirrende Frost letztlich höherer Wille sei.

Trotz der Ratschläge zieht es an die hunderttausend Demonstranten für faire Wahlen und gegen eine dritte Amtszeit Wladimir Putins auf die Straße. Der 4. Februar ist in Russland nicht irgendein Datum. Genau vor 22 Jahren war Moskau schon einmal Schauplatz einer Großdemonstration. Damals forderten Hunderttausende die Aufhebung des Monopols der KPdSU und leiteten damit das Ende des Regimes ein. Am nächsten Tag hob das Zentralkomitee der Partei die Vorrangstellung auf.

Erbe verpflichtet, aber mit so einem durchschlagenden Erfolg ist heute nicht zu rechnen. Die Proteste stehen am Anfang und den Machthabern im Kreml steht das Wasser noch nicht bis zum Hals. „Linke, Rechte, Bürgerrechtler, Demokraten und Liberale marschieren gemeinsam“, freut sich ein älterer Herr. Sei nicht das schon ein Erfolg? Sie marschieren gemeinsam, sind aber in einzelne Kolonnen aufgeteilt, weil die Organisatoren dem Frieden nicht ganz trauen.

Die Atmosphäre ist bestens, mit jedem weiteren Teilnehmer steigt die Stimmung. Artjom ist ein ganz aktiver Agitator, der seine Umgebung ungefragt unterhält. Der 22-jährige Uniassistent trägt mit seinem Kommilitonen ein Transparent mit der Aufschrift: „Russland ist totalitär – schon wieder“. In einer Mischung aus Pop- und Trash-Art teilt er so mit, was er vom System Putin sonst noch hält: nicht viel, eine Räuberbande sei es. Der Biologe von der Moskauer Staatsuniversität hält den Transparentstock hoch: „Aus unserem Öl, das Rohr stammt aber aus Polen. Wir liefern auch Holz nach China und kaufen Zahnstocher zurück.“ Die Mitmarschierer drehen sich lachend, aber wohlwollend nach ihm um. Gelegentlich fordert ihn sein Kollege Fjodor, ein stillerer Typ, auf, etwas leiser zu reden und auf den Weg zu achten.

Artjoms Mitteilungsdrang können nur die Sprechchöre der Demonstranten unterbrechen: „Russland ohne Putin“, skandieren sie immer mal wieder. Es klingt mühsam. Sie sind nicht so gegen die Kälte gefeit wie Artjom, dessen Bart sich in Eiskristalle verwandelt. „Noch einmal sechs Jahre Putin und wir sind ein Entwicklungsland“, sagt er.

„Das Maß ist voll“, stimmt Fjodor leise zu. Auch er ist Naturwissenschaftler und an der Uni beschäftigt. Er wird bei den Wahlen den Kommunisten Gennadij Sjuganow wählen. Artjom hätte für den Kandidaten der demokratischen Partei Jabloko gestimmt. Deren Spitzenmann Grigorij Jawlinski wurde aber nicht zur Wahl zugelassen. „Die Machthaber wählen sich einfach selbst“, faucht er. Artjom stammt aus einem kleinen Ort im Nordwesten Russlands. Er ist kein begüteter Hauptstädter. Auch auf dem Land kippe allmählich die Stimmung, behauptet er. Anfangs demonstrierten nur die Mittelschichten. „Ich gehöre nicht dazu, dreh dich doch mal um.“

„Noch einmal sechs Jahre Wladimir Putin und wir sind ein Entwicklungsland“

ARTJOM, DEMONSTRANT

Artjom hat Recht, die Basis des Protestes wird breiter. Die Teilnehmer sind nicht mehr alle wie aus dem Ei gepellt. Nach anderthalb Kilometern Marsch ist der Kungebungsort erreicht, der Bolotnaja-Ploschtschad, Sumpf-Platz zu Deutsch. Am Rande stehen Kesselwagen mit heißem Tee. Ein Stelzengänger parodiert Wladimir Putins inzwischen geflügeltes Wort, er hätte „Russland von den Knien erhoben“.

Der Spott auf den Plakaten über Russlands einstigen Hoffnungsträger stimmt melancholisch. Wie schnell es doch bergab gehen kann. „Wir sind für echte Amphoren“, verlangt ein weiteres Plakat. Im Sommer war Putin im Schwarzen Meer getaucht und hatte in einem PR-Stunt drei vorher versenkte griechische Vasen gehoben.

Das Volk lässt sich nicht für dumm verkaufen, für wie dämlich man es auch halten mag. Kein Wort bleibt unwidersprochen. Der Satiriker und Dichter Dmitri Bykow karikierte den Topos der herrschenden Elite, im Kahn doch bitte Ruhe zu bewahren. „Schaukelt nicht das Boot, die Ratte wird seekrank“, stand auf seinem Transparent. Am Ende gab es dann noch „Blutgeld“ aus dem State Department. „100 Barack-Noten“ verteilten Aktivisten der Gruppe „horizontaler Widerstand“ als Aufwandsentschädigung für den Kältetest. Laut Putin sind alle Unzufriedenen von den USA gekauft.

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